Jahresbericht 2014 | 2015: Medizin. Menschen. Momente.

„Was führt Sie zu mir, Herr Müller?“, beginnt die Medizin- studentin. Der ältere Mann blickt durch sie hindurch, sagt dann leise: „Meine Tochter schickt mich, sie macht sich Sorgen.“ „Haben Sie denn Beschwerden?“ Eigent- lich gehe es ihm gut. „Hat Ihre Tochter nicht gesagt, warum Sie sich vorstellen sollen?“ „Sie macht sich halt Sorgen, ich soll mich mal durchchecken lassen.“ „Sicher- heitshalber, weil Sie schon älter sind?“, fragt die ange- hende Ärztin unsicher. Herr Müller zögert, stammelt. „Ich habe ihren Geburtstag vergessen. Ich werde halt auch älter.“ Da ist er, der entscheidende Hinweis für die Jungmedizinerin. „Vergessen Sie denn öfter mal was?“, hakt sie nach. Seine Kinder kümmerten sich schon. Spazieren gehe er gern, Vögel beobachten. Welche Vögel, will die Studentin wissen. Der Mann lacht kurz. „Die ganzen Singvögel habe ich fotografiert. Kennen Sie sich auch aus?“, lenkt er ab. Wie seine Kinder heißen, welcher Tag heute sei – der Patient gerät ins Stocken. „Wir machen mal ein paar Tests mit Ihnen, um zu schauen, wie gut Ihr Gedächtnis ist“, sagt sein Gegen- über. Herr Müller solle nach nebenan gehen. Herr Müller heißt in Wirklichkeit Johannes Schoierer, ist 54 Jahre alt und kann sich Dinge eigentlich sehr gut merken – vor allem seine Rollen als Simulationspatient. Nicht nur der demenzkranke Herr Müller, auch Diabetes, Rückenschmerz und ein Alkoholentzugssyndrom mit Delir gehören zu seinen Paraderollen. Johannes Schoierer arbeitet selbst im Krankenhaus, nebenbei ist er Amateurschauspieler mit Theaterpädagogik-Ausbil- dung. Am Universitätsklinikum Erlangen schlüpft er regel- mäßig in verschiedene Patientenrollen und simuliert, bis der Arzt kommt. Medizinstudenten üben mit dem Hobby-Schauspieler Anamnese und Befunderhebung oder bringen ihm schlechte Nachrichten, etwa die vom absehbaren Tod eines Angehörigen, möglichst einfühlsam bei. „Da gibt es auch mal Tränen – auf beiden Seiten. Das geht schon nah“, sagt Johannes Schoierer. Richtig gern mag er den allwissenden Pati- enten, der immer besser informiert ist als der Arzt. „Zu Beginn der Szene knalle ich dem Studenten erst mal einen Berg Papier mit den neuesten Diabetes-Studien hin und fordere, dass er mir jetzt auch endlich dieses neue Medikament verschreibt.“ Den Rückenschmerzge- plagten mimt Johannes Schoierer in gleich vier Vari- anten: als verzweifelten Dauer-Leidenden, als Hypochonder, der unbedingt ein CT will, weil sein Nachbar auch eins hatte, als Patienten ► Auf Knopfdruck krank: Im Rahmen der studentischen Lehre machen Simulationspatienten den Medizinstu- denten etwas vor. Dabei sind die Schauspieler Studien zufolge so authentisch, dass selbst Fachärzte sie nicht von echten Patienten unterscheiden können. Wenn der Patient Theater macht In der Rollenschulung zur Demenz rät Dr. Anita Schmidt: „Zeigen Sie ruhig kurze Momente der Verzweiflung, die kommen im Anfangsstadium durchaus vor.“ UNIVERSITÄTSKLINIKUM ERLANGEN | 29

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