Jahresbericht 2017 | 2018: Medizin. Menschen. Momente.

In einer Selbsthilfegruppe hatte Corinna T., die mit ihrer Familie in der Nähe von Bremen lebt, von Prof. Dr. Holm Schneider gehört und Kontakt aufgenommen. Der Oberarzt der Kinder- und Jugendklinik (Direktor: Prof. Dr. Dr. h. c. Wolfgang Rascher) des Uni-Klinikums Erlangen und Sprecher des Zentrums für Ektodermale Dysplasien Erlangen betreut seit fast 20 Jahren die Patienten mit den auffällig spitzen Zähnen. Er weiß: „Das Gefährliche an der ,Vampirkrankheit‘ sind die fehlenden Schweißdrüsen. Immer wieder sterben vor allem kleine Kinder mit Ektodermaler Dysplasie an einer Überhitzung, weil sie sich selbst noch nicht helfen können. Sie sind noch nicht imstande, einfach in den Schatten zu gehen, ein aufgeheiztes Auto zu verlassen oder sich mit Wasser abzukühlen“, sagt der Experte. „Nicht schwitzen zu können, so hat es einer meiner Patienten erklärt, das ist wie Fahren mit einem Motor ohne Kühlung. Und das bedeutet riesige Einbußen an Lebensqualität in einer Familie.“ Dem Baby, das im Mutterleib heranwächst, die fehlenden Schweißdrüsen mitzugeben, die ihm später das Leben retten – das war Prof. Schneiders Vision. Als Corinna T. erneut schwanger wurde – diesmal mit Zwillingen, die ebenfalls Ektodermale Dysplasie haben würden –, entschieden sich die Eltern für eine Behandlung in Erlangen. „Wir hatten nichts zu verlieren. Irgendwer muss ja Vorrei- ter sein. Wir konnten etwas tun, das unseren Kindern das Leben erleichtert“, begründet Corinna T. ihre Entscheidung. Nach fast zwanzigjähriger Forschung unternahm Holm Schneider im Februar 2016 gemeinsam mit PD Dr. Florian Faschingbauer von der Frauenklinik (Direktor: Prof. Dr. Matthias W. Beckmann) des Uni-Klinikums Erlangen den weltweit ersten Therapieversuch gegen die Erbkrankheit – direkt in der Gebärmutter. THERAPIE IM MUTTERLEIB Ektodysplasin A1 (EDA1) ist ein Protein, das normalerweise im Körper vorkommt. Wäh- rend der Entwicklung des Kindes im Mutter- leib sorgt es dafür, dass sich Haare, Zähne und Hautanhangsgebilde wie die Schweiß- drüsen bilden. Föten mit X-chromosomaler Hypohidrotischer Ektodermaler Dysplasie (XLHED) fehlt das EDA1-Protein – auch den ungeborenen Zwillingen Linus und Maarten. „Die letzte Studie, in der EDA1 erkrankten Neugeborenen verabreicht wurde, hat uns Mit der Injektion eines Ersatzproteins in die Fruchtblase haben Prof. Dr. Holm Schneider (r.) und PD Dr. Florian Faschingbauer eine erbliche Entwicklungsstörung korrigiert, die bislang unheilbar war. U N I V E R S I T Ä T S K L I N I K U M E R L A N G E N J A H R E S B E R I C H T 2 0 17 | 2 0 1 8 5 H E L F E N H E I L E N Ektodermale Dysplasie Die Erbkrankheit ruft Fehlbildungen an den Strukturen hervor, die vom Ektoderm abstammen – also vom äuße- ren Keimblatt des Embryos, aus dem die Haut und ihre Anhangsgebilde entstehen. Von Fehlbildungen betroffen sind u. a. Haut, Schweiß-, Talg- und Duftdrüsen, Haare, Nägel, Zähne, Brustdrüsen und Augenlider. Unter den über 150 Arten von Ektodermalen Dysplasien ist die X-chromo- somal vererbte Hypohidrotische Ektodermale Dysplasie (XLHED) die häufigste. Sie liegt in 80 bis 90 Prozent der Fälle vor – so auch bei Joshua, Linus und Maarten, wobei sie bei den Zwillingen deutlich schwächer ausgeprägt ist. Typische äußerliche Merkmale sind: wenige und spitze Zähne, abstehende Ohren, fehlende Augenbrauen, dünnes, kaum pigmentiertes Haupthaar, schuppige Haut, dunkle Augenschatten und ein eingesunkener Nasenrücken.

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