Jahresbericht 2018 | 2019: Medizin. Menschen. Momente.
„N ur gucken, nicht anfassen“, scheint das Gehirn zu sagen und macht es Hirnforschern damit nicht leicht. Die Ge- hirnaktivität im Moment eines epileptischen Anfalls zu beobachten, ist dank modernster Bildgebung zwar möglich. Aber an pathologisch untersuchbare Proben zu kommen, das ist wesentlich komplizierter als bei der Haut oder beim Darm. Einem lebenden Menschen kann nicht einfach Ge- hirngewebe entnommen werden – zu hoch sind die Risiken für seine Gesundheit. Und Proben von Verstorbenen bilden nur einen einzelnen Zeitpunkt ab, meist bei schon fort- geschrittener Erkrankung. Die Forscher wollen aber mehr: Sie wollen nicht nur das kranke Gehirn heute sehen, sondern auch unter- suchen, wie es sich im Embryo entwickelte und wo sich die Fehler einschlichen, die später zu einer neurologischen Erkrankung führten. Eine Zeitreise muss also her – zu den frühesten Entwicklungsstufen des Gehirns. DER GEHIRN-BAUSATZ Die Zeitreise möglich machen sollen soge- nannte Organoide – im Labor herangewach- sene Vorstufen menschlicher Organe. Eine denkbar komplexe Aufgabe. Zunächst braucht es die Bauteile – also spezifische humane Körperzellen. Diesen ersten Meilenstein – 2012 mit dem Medizin-Nobelpreis prämiert – legte der Japaner Shinya Yamanaka: Der Stammzellforscher entwickelte die „Repro- grammierung“, ein Verfahren, das ausgereifte Hautzellen zunächst in ihre ursprünglichste Form – in induzierte pluripotente Stammzel- len – zurücksetzt und diese schließlich in bei- nahe jeden humanen Zelltyp umwandelt. So ist es Forschern tatsächlich möglich, lebende Nervenzellen eines Patienten zu generieren, ohne jemals dessen Ge- hirn berührt zu haben. Doch für eine Gehirn- nachbildung reicht das noch nicht. Das Organ besteht nämlich nicht aus einer einzigen Nervenzell- art, sondern aus vielen unterschiedlichen – etwa Neuronen, Oligodendrozyten, Astrozyten, Mikroglia, Perizyten und Endothelzellen. Sie alle müssen als organisiertes Netzwerk zu- sammenwachsen. Dies gelang 2013 schließ- lich österreichischen Wissenschaftlern: Unter Laborbedingungen entwickelte sich erstmals eine dreidimensionale Vorstufe des menschlichen Gehirns – ein „gehirnähnliches Organoid“ oder „Minibrain“ im Laborjargon. LIVESCHALTUNG ZUR STUNDE NULL Mit dieser Technologie können wissenschaft- liche Fragestellungen zum Ursprung von Be- wegungserkrankungen wie Parkinson sowie von Schizophrenie und von Autismus unter- sucht werden. Prof. Dr. Beate Winner ist Sprecherin des neuen Forschungsverbunds ForInter (Forschungsverbund für Interaktion von humanen Gehirnzellen) und Leiterin der Stammzellbiologischen Abteilung. Als Co-Spre- cher steht ihr Prof. Dr. Jürgen Winkler, Leiter der Molekular-Neurologischen Abteilung, zur Seite. In ForInter konzentrieren sich Forscher aus Erlangen, Regensburg, München und Pas- sau auf die Kommunikation der unterschied- lichen Gehirnzelltypen. „Heute wissen wir, dass eine Störung dieser Zellkommunikation zur Entstehung neurologischer Erkrankungen führen kann“, erklärt Beate Winner. „Aber uns fehlen die Details: Wie sieht die Zellinter- aktion im gesunden Menschen aus? Und was läuft bei einem Erkrankten schief?“ Die Minibrains sollen bald Antworten auf diese Fragen geben, denn jedes Organoid ist nicht nur echtes humanes Gewebe, sondern auch eine Replik des einzelnen Patientengehirns. „ Heute wissen wir, dass eine Störung der Zell- kommunikation zur Entstehung neurologischer Erkrankungen führen kann. Aber noch fehlen uns die Details.“ Prof. Dr. Beate Winner, Leiterin der Stammzellbiologischen Abteilung und ForInter-Sprecherin 10 Monate lang halten sich die Gehirnorganoi- de unter Laborbedin- gungen. F O R S C H E N L E H R E N U N I V E R S I T Ä T S K L I N I K U M E R L A N G E N J A H R E S B E R I C H T 2 0 1 8 | 2 0 1 9 17
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