Jahresbericht 2018 | 2019: Medizin. Menschen. Momente.
verbleiben, betten die Forscher sie in ein Proteingel. Von diesem gestützt, ranken sich die Zellen in die Höhe – und zwar bei ange- nehmen 37 Grad, die die Körpertemperatur im Mutterleib simulieren. Dann braucht es noch ein wenig Bewegung, also werden die Organoide leicht durchgerüttelt. Nach acht Wochen im Brutschrank und regelmäßiger „Fütterung“ mit Nährstofflösungen lassen sich unter dem Mikroskop erste gehirnähn- liche Strukturen, die sogenannten Ventrikel, erkennen. „Das biologische Alter der Orga- noide ist vergleichbar mit dem Entwicklungs- stadium im dritten Schwangerschaftsmonat“, sagt Prof. Winner. „Dann ist erst einmal Schluss. Denn ab dann sind die Organoide so groß, dass nun Blutgefäße nötig wären, um den Nährstofftrans- port zu überneh- men. Derart kom- plexes Gewebe zu züchten, ist aktu- ell aber noch in der Entwicklung.“ Deshalb bleiben die Minibrains maximal stecknadelkopfgroß. „Sie mögen winzig sein, für uns sind ihre Möglichkeiten aber gigan- tisch“, freut sich die ForInter-Sprecherin. Die Hypothese der Forscher: Die pluripoten- ten Stammzellen des Patienten tragen die genetischen Auslöser seiner Erkrankung immer noch in sich. Ziehen die Forscher aus diesen Stammzellen schließlich Gehirn- gewebe heran, sind sie endlich ab Stunde null der Krankheit live dabei. „So wollen wir Parkinson, Autismus oder seltene Be- wegungserkrankungen nicht nur besser verstehen, sondern auch neue Substanzen testen“, sagt Prof. Winkler und denkt noch einen Schritt weiter: „Deren Wirkung ließe sich dank der Organoide gleich an leben- den menschlichen Zellen testen, ohne Risiken für den Patienten einzugehen.“ SIE MÖGEN ES WARM Minibrains heranwachsen zu lassen, ist so delikat, wie ein zartes Pflänzchen aus der Erde zu ziehen: Es braucht die richtige Zu- sammensetzung von Erde, Temperatur und Nährstoffen. Damit sich die verschiedenen Gehirnzelltypen dreidimensional organisieren und nicht platt am Boden ihrer Petrischale Stecknadelkopfgroß, aber doch gigantisch: Organoi- de, also in vitro herge - stellte Organvorstufen, bieten Wissenschaftlern ganz neue Möglichkeiten, reale Lebensvorgänge zu untersuchen. An den milli- meterkleinen Zellkulturen lässt sich beobachten, wie Gewebe sich entwickelt, wie Medikamente wirken und Erkrankungen ent- stehen. Da Organoide aus menschlichen Stamm- zellen heranwachsen, gibt es sie auch als Modell des Darms, der Nieren oder des Herzens. „ Unsere Patienten wissen, dass zu- künftige Therapien nur durch ihre Unterstützung realisierbar sind.“ Prof. Dr. Jürgen Winkler, Leiter der Molekularen Neurologie F O R S C H E N L E H R E N U N I V E R S I T Ä T S K L I N I K U M E R L A N G E N J A H R E S B E R I C H T 2 0 1 8 | 2 0 1 9 18
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