Jahresbericht 2019 | 2020: Medizin. Menschen. Momente.

uf dem Teppich ihres Kinder- zimmers klappt Lara ihren roten Koffer auf. Vor der heute Elf- jährigen liegt eine neue Welt – eine Landschaft mit weichen grünen Wiesen, einem Wasserfall und einem glitzernden See, mit Walt Disney’s Rapunzel, Cinderella und Schneewittchen. Darüber ein Himmel, der genau zwei Sternbilder zeigt: Löwe und Widder. „Die Sternzeichen von meiner Schwester und mir“, sagt Lara. Im Himmel ist ein Umschlag aufbewahrt, darin ein Brief, der das Mädchen daran erinnert, was ihr Freude macht, wo ihre Stärken liegen und was sie sich wünscht. „Ich kann gut basteln“, liest Lara vor. „Kraft geben mir meine Familie, meine Freunde, meine Hasen Nala und Schnuffel und Molly, meine Katze. Ich wünsche mir, dass ich aufs Gymnasium kann.“ „WIE GEHT ES MILENA?“ Im August 2019 verlor Lara ihre kleine Schwes- ter Milena. Das schwer herzkranke Mädchen starb elf Tage vor seinem sechsten Geburts- tag. Drei Jahre lang hatte das Kinderpalliativ- team der Kinder- und Jugendklinik Milena und ihre Familie zu Hause im unterfränkischen Aidhausen betreut. „Da drehte sich natürlich immer alles um das kranke Kind: Was wünscht sich Milena, was will sie noch er- A leben, was möchte sie essen, was soll im Fernsehen laufen? Alle wollten es Milena recht machen“, berichtet die Oberärztin und Leiterin des Kinderpalliativteams Dr. Chara Gravou-Apostolatou. Lara, die Große, hielt sich in dieser Zeit sehr im Hintergrund. Sie erlebte, wie die kleine Schwester immer schwächer wurde, kurz- atmig und mit stechenden Herzschmerzen. Sah die selbst herzkranke Mutter und den Vater am Rande ihrer Belastbarkeit. Gab nach bei geschwisterlichen Querelen, damit die Kleine sich nicht zu sehr aufregte. Be- merkte, dass der Vater seinen Sport aufgab, um bei der kranken Tochter zu bleiben. Spürte die Traurigkeit einer ganzen Familie und wollte doch selbst nicht für noch mehr Kummer sorgen. Kamen Verwandte, Nach- barn oder Freunde zu Besuch, fragten sie meist zuerst: „Wie geht es Milena?“ Irgend- wann verschwand Lara still in ihrem Zimmer. „Lara musste schon sehr hintenanstehen“, sagt ihr Vater Christian Günther nachdenklich und mit bedauernder Stimme. Die Kunst­ pädagogin Michelle Dotzauer vom Kinder- palliativteam bot den Eltern deshalb schon Ende 2018 an, ihre ältere Tochter in das neue Projekt „KofferRaum“ aufzunehmen. 25 L E B E N B E W E G E N U N I V E R S I T Ä T S K L I N I K U M E R L A N G E N J A H R E S B E R I C H T 2 0 1 9 | 2 0 2 0 Ein Platz bleibt leer: Dort, wo die herzkran- ke Milena ihre letzten Tage verbrachte, liegen heute eine Decke und Kissen – genäht aus Milenas Lieblingsklei- dung. Ein Leben zu dritt – das muss Familie Günther jeden Tag ein bisschen mehr lernen. Das Erlanger Kinder- palliativteam ist in ganz Nordbayern unterwegs, fährt durchschnittlich 3.000 Kilometer pro Woche und betreut bis zu 40 schwerstkranke Patienten und ihre Angehörigen.

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