Jahresbericht 2019 | 2020: Medizin. Menschen. Momente.

meln, ein Anhänger zeigt in Großbuchstaben ihren Namen. „Manchmal schließe ich ab, aber nicht immer“, verrät Lara. Ihre Eltern beobachten, dass ihr die kreative Beschäftigung guttut. „Das Projekt war für uns ein Denkanstoß. Nach dem Tod von Mi- lena hat Lara oft gefragt: ,Muss ich darüber reden?‘ Wir haben gemerkt, sie bastelt lieber. Sie ist dabei in Gedanken bei Milena, aber doch auch irgendwie vertieft und abgelenkt“, beschreibt es Christian Günther. „Wir ha- ben uns mit Trauerbewältigung beschäftigt, Bücher darüber gelesen, worauf es jetzt an- kommt. Aber mit dem Verlust umgehen muss am Ende jeder für sich selbst, auf seine Art.“ Laras Liebe zum Gestalten ist mittlerweile überall in ihrem Kinderzimmer sichtbar: Sie baute eine mehrstöckige Villa aus Papier, ließ Rotkäppchen in einem Märchenkarton lebendig werden, bemalte Steine und Äste. Und sie bastelte auch für Milenas Grab. „WIR KÖNNEN ÜBERALL HIN“ Auf dem Kinderzimmerbett hinter Lara liegt ein zweiter aufgeklappter Koffer – einer, mit dem die Fünftklässlerin am nächsten Tag ihr Zimmer verlassen und reisen wird. „Hast du alles, was du brauchst?“, fragt ihr Vater. Mit ihm fährt Lara für knapp eine Woche zum Skifahren in den Bayerischen Wald. „Es ist ganz komisch, jetzt zu verreisen. In den letzten Jahren waren wir kaum weg. Alles drehte sich um die Erkrankung von Milena“, gesteht Christian Günther, und es scheint, als werde ihm das in diesem Moment selbst erst richtig bewusst. Heute fordert Lara von ihren Eltern die Aufmerksamkeit, die sie lange nicht be- kommen konnte. „Wir sind dankbar, dass sie nicht mit Depressivität oder Aggression auf Milenas Tod reagiert hat. Wir haben immer versucht, das alles mit sehr viel Liebe aufzu- fangen. Und es ist schön, dass wir jetzt wieder mehr Zeit haben, uns um Lara zu kümmern.“ Christian Günther und seine Frau Katja wollen den eigenen Bedürfnissen und denen von Lara nun wieder mehr Raum geben. Doch diese Freiheit tut auch weh. Weil sie bedeu- tet, dass die kleine kranke Tochter nicht mehr zu Hause wartet, wenn die Eltern zu- rückkommen. Weil sie zeigt, dass jemand fehlt. Das schmerzt – und überfordert zu- gleich. Christian Günther sagt: „Wir wissen noch nicht so recht, was wir mit unserer Zeit anfangen sollen – jetzt, wo wir keine Rund- um-die-Uhr-Betreuung mehr leisten müssen. Vor ein paar Tagen habe ich Lara eine Welt- karte hingelegt und gesagt: Schau, das ist unsere Erde. Was willst du sehen? Wir kön- nen überallhin.“ FM 12 Geschwisterkinder haben bis zum Frühjahr 2020 bereits „KofferRäume“ gestaltet. 27 L E B E N B E W E G E N U N I V E R S I T Ä T S K L I N I K U M E R L A N G E N J A H R E S B E R I C H T 2 0 1 9 | 2 0 2 0 Die Hausbesuche von Michelle Dotzauer (2. v. l.) und Dr. Chara Gravou-Apostolatou (r.) in Aidhausen sind geprägt von Herzlichkeit und Wärme. „Ich bewundere die Familie sehr dafür, mit wie viel Liebe, Bewusstheit und Offenheit sie das alles meistert“, sagt Dr. Gravou-Apostolatou.

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