Jahresbericht 2019 | 2020: Medizin. Menschen. Momente.

40 H E L F E N H E I L E N U N I V E R S I T Ä T S K L I N I K U M E R L A N G E N J A H R E S B E R I C H T 2 0 1 9 | 2 0 2 0 campus werden die seelischen Beschwerden Geflüchteter seit 2015 kultursensibel auf- genommen, eingeordnet und behandelt. Andrea Borho führt hier die überwiegende Zahl der diagnostischen Gespräche mit den Migranten. „Jeder Mensch erscheint uns in der Begegnung zunächst andersartig – unser Ansatz ist es, nach den interkulturellen Besonderheiten zu fragen“, erläutert die Psychologin. „Die Ambulanz ist eine Einladung: Wir zeigen nicht nur den Geflüchteten, son- dern auch ihren Angehörigen und den Inte- grationsbeauftragten sowie den zuständigen Institutionen, dass hier Fachleute arbeiten, die diese Probleme kennen und Therapien dafür anbieten.“ EINMALIGE LANGZEITSTUDIE Ein entscheidendes Merkmal der interkultu- rellen Psychotherapie ist der Wandel des klassischen Dialogs zwischen dem Patienten und dem Therapeuten zu einer Dreierkonstel- lation: Sprach- und Kulturmittler unterstützen die interkulturelle Kommunikation. „Weil es in Bayern keine Ausbildung dafür gibt, haben wir selbst Dolmetscher akquiriert und ge- schult“, berichtet Yesim Erim. Parallel baute das Team der Erlanger Flüchtlingsambulanz eine enge Kooperation mit der Stadt Erlangen auf, die bis heute besteht. „Unser Ziel ist es, eine nachhaltige psychotherapeutische Ver- sorgung für Geflüchtete zu etablieren“, berich- tet die Medizinerin. „Eine umfassende Ver- netzung ist dafür unabdingbar.“ Als wissenschaftlichen Hintergrund für die interkulturelle Psychotherapie legt die Erlanger Psychosomatik zahlreiche Forschungspro­ jekte auf, die zum Teil überraschende Ergeb- nisse liefern. Herausragendes Beispiel ist die europaweit einmalige Langzeitstudie über die Traumafolgestörungen syrischer Geflüch­ teter mit Aufenthaltsgenehmigung, die Andrea Borho für ihre Doktorarbeit erhoben hat. Ob- wohl sich die Lebensbedingungen der be- fragten Geflüchteten im Erhebungszeitraum zwischen 2017 und 2019 deutlich stabilisierten und etwa 40 Prozent der Teilnehmenden einen Arbeitsplatz fanden, litten sie weiterhin unter Angststörungen, Depressionen und posttraumatischen Belastungsstörungen, ohne dass sich die Werte signifikant ver - besserten. „Die Ergebnisse bekräftigen die Bedeutung therapeutischer Interventionen“, resümiert Andrea Borho. „Wir sehen, dass Geflüchtete oft auch nach längerem Aufent- halt in Deutschland stark psychisch belastet sind“, bestätigt Prof. Erim. PROJEKT VIOLIN Nach starkem Andrang in den Anfangsjahren ist die Zahl der Gespräche in der Ambulanz für Geflüchtete zwar etwas zurückgegan - gen, wird aber bis heute mit mehr als 40 Erstgesprächen pro Jahr weiterhin intensiv genutzt. „Die Menschen kommen erst zu uns, wenn sie innerlich etwas zur Ruhe ge- kommen sind und mehr Sicherheit haben“, erläutert Prof. Erim. „Wer in einer Flüchtlings- unterkunft noch mit seinem Alltag kämpft, weil er ohne eigenen Schlafraum ist und keinen abschließbaren Spind für sein Eigen- tum besitzt, geht nicht zur Psychotherapie.“ Patienten, die sich aktuell in der Ambulanz melden, leiden nicht nur unter posttraumati- „Wir sehen, dass Geflüchtete oft auch nach längerem Auf- enthalt in Deutschland stark psychisch belastet sind.“ Prof. Dr. (TR) Yesim Erim, Leiterin der Psychosomatik Als interkulturelle Mittlerin begleitet Songül Saridemir-Yolveren seit 2015 muslimische Patienten und ihre Angehörigen in allen Einrichtungen des Uni-Klinikums Erlangen. Die Pflege- fachkraft absolvierte dafür eine Zusatz- ausbildung in Pädagogischer Psychologie.

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