Zum Hauptinhalt springen

Augenzeugenberichte aus dem Krebsgewebe

Augenzeugenberichte aus dem Krebsgewebe

Molekulare Prägungsprozesse in den Zellen der Tumorblutgefäße geben Auskunft über Bedingungen im Krebsgewebe

Darmkrebs stellt weltweit die dritthäufigste Krebsart dar. Etwa eine Million Menschen sterben jedes Jahr an dieser Erkrankung. Forschende arbeiten daran, die Bedingungen und Prozesse im Krebsgewebe besser zu verstehen, damit spezifische und wirksamere Therapien entwickelt werden können. Die Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Elisabeth Naschberger aus der Sektion Molekulare und Experimentelle Chirurgie (Leiter: Prof. Dr. Dr. Michael Stürzl) der Chirurgischen Klinik (Direktor: Prof. Dr. Robert Grützmann) des Uniklinikums Erlangen veröffentlichte nun überraschende Ergebnisse: Sie zeigen, dass Endothelzellen, die die Blutgefäßzellen im Krebsgewebe umkleiden, nach ihrer Isolierung in der Zellkultur die unterschiedlichen Bedingungen, denen sie im Tumor ausgesetzt waren, offenlegen und als „Augenzeugen“ aus dem Krebsgewebe eingesetzt werden können.

Die Krebsforschung konzentrierte sich zu Beginn vorwiegend auf die Tumorzellen, wobei sich in den vergangenen zehn Jahren zeigte, dass deren alleinige Betrachtung nicht ausreicht, um Krebs vollumfänglich zu verstehen und effizient zu bekämpfen. Der Grund ist die Einbettung der Krebszellen in das umgebende Gewebe, das aus einem Netzwerk vieler unterschiedlicher Zellen besteht. Hierzu zählen Immunzellen, Fibroblasten und Endothelzellen, die alle mit den Krebszellen über zahlreiche Botenstoffe interagieren. Dieses Wechselspiel wird in seiner Gesamtheit als Mikroumgebung des Tumors bezeichnet. Je nach Patientin oder Patient und je nach den spezifischen Interaktionen beteiligter Zellarten kann die Mikroumgebung das Tumorwachstum fördern oder verhindern, aber auch das Ansprechen auf eine onkologische Behandlung entscheidend beeinflussen.

Eine Krebszelle entsteht aufgrund einer Ansammlung genetischer Veränderungen, die stabil aufrechterhalten werden. Deshalb können die veränderten Eigenschaften von Krebszellen auch nach der Isolierung in der Kultur untersucht werden. Im Gegensatz dazu – so die bisherige Annahme – sind entsprechende Untersuchungen an Endothelzellen des Krebsgewebes nicht zielführend, da diese keine stabilen tumorspezifischen Merkmale besitzen und nach der Isolierung ihre Erinnerung an die spezifischen Bedingungen im Tumor verlieren. Prof. Naschberger hat diese Annahme gezielt hinterfragt. Bei ihren Untersuchungen konzentrierte sie sich auf Endothelzellen, da diese auch ein therapeutisches Ziel darstellen. So entwickelte der 2008 verstorbene Zellbiologe und Mediziner Prof. Dr. Judah Folkman von der Harvard Medical School in Boston bereits 1972 die Hypothese, dass über die Hemmung der Tumorblutgefäße der Tumor „ausgehungert“ werden kann und infolgedessen Wachstum und Ausbreitung der Krebszellen therapeutisch gehemmt werden können. Tatsächlich gelang es Judah Folkman mit diesem Ansatz, die meisten Krebsformen vollständig zu hemmen, allerdings nur in Mausmodellen. Die Anwendung dieser Therapie beim Menschen führte zu wesentlich weniger spektakulären Ergebnissen. Es wurde vermutet, dass der Grund für die schlechtere Wirkung beim Menschen in der wesentlich langfristiger aufgebauten und von Tumor zu Tumor unterschiedlichen Mikroumgebung liegt.

Prof. Naschberger folgerte, dass beim Menschen – im Unterscheid zur Maus – gerade die lange Aufenthaltsdauer der Endothelzellen in der Tumormikroumgebung dazu führen könnte, dass diese Zellen bestimmte mikromilieuspezifische Funktionen in Form einer Prägung annehmen und stabil in der Kultur beibehalten. Die Analyse der unterschiedlichen Prägungen könnte in Form eines „Augenzeugenberichts“ wichtige Hinweise auf die Bedingungen im Tumor geben. Um dies zu prüfen, etablierte Elisabeth Naschberger erstmals geeignete Isolierungsmethoden für Endothelzellen aus humanen Darmkrebsgeweben und analysierte mit modernen Methoden systematisch die Gesamtheit der Genmutationen, Genexpressionen und epigenetischen Modifikationen in diesen Zellen. Diese Analysen ergaben, dass die Tumorgefäßendothelzellen entsprechend der klinischen Prognose der Ursprungserkrankung unterschiedliche spezifische Funktionen beibehalten, die vorrangig über eine epigenetische Prägung stabil fixiert wurden. Prof. Naschberger fand zudem, dass das spezifische Genexpressionsmuster der kultivierten Endothelzellen die Prognose der Patientinnen und Patienten vorhersagen konnte. Sie erläutert: „Diese Ergebnisse zeigen, dass kultivierte Endothelzellen aus dem Tumor quasi als ,Augenzeugen‘ der unterschiedlichen Bedingungen im Tumor dienen können. Zudem ermöglichen die kultivierten Zellen spezifische Tests zur Tumorfunktion und zum Therapieansprechen.“

Die Forscherin hofft, dass dank dieses Ansatzes künftig das sehr unterschiedliche Ansprechen der Betroffenen auf eine blutgefäßhemmende Tumortherapie verbessert werden kann. Prof. Stürzl, Leiter der Sektion, freut sich sehr über die Ergebnisse: „Ich weiß noch, wie Prof. Naschbergers erste Anträge auf Förderung für dieses Projekt mit dem Verweis abgelehnt wurden, dass sich Endothelzellen aus dem Tumor in Kultur so stark verändern, dass man nichts über die Bedingungen im Tumor lernen kann. Es freut mich deshalb umso mehr, dass ihre mit viel Durchhaltevermögen erarbeiteten Ergebnisse diese festgefügte Meinung modifizieren konnten und dass das hoffentlich Krebspatientinnen und -patienten nutzen wird.“ Die Ergebnisse wurden im hochrangigen internationalen Fachmagazin Cancer Communications veröffentlicht.

Quelle: uni | mediendienst | forschung Nr. 64/2023

Weitere Informationen:

Prof. Dr. Elisabeth Naschberger
09131 85-39524
elisabeth.naschberger(at)uk-erlangen.de