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Das Immunsystem berechenbar machen

Prof. Dr. Frederik Graw will mit mathematischen Modellen die Immunantwort entschlüsseln

Mathematikstudium mit Nebenfach Medizin: Diese Kombination erlaubt es Prof. Dr. Frederik Graw, biologische Prozesse mit mathematischen Modellen anzugehen. Seit Januar 2023 besetzt Frederik Graw die neue Professur für Modellierung von Immunprozessen an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Mit seiner gleichnamigen Arbeitsgruppe forscht der Mathematiker an der Medizinischen Klinik 5 – Hämatologie und Internistische Onkologie (Direktor: Prof. Dr. Andreas Mackensen) des Uniklinikums Erlangen. Doch obwohl er sein Arbeitszimmer im Translational Research Center an der Schwabachanlage hat, benötigt Frederik Graw für seine Arbeit kein Labor, sondern hochleistungsfähige Server. Diese ermöglichen Simulationen mit bis zu 50.000 oder gar 100.000 einzelnen Zellen; dank maschinellem Lernen lassen sich so hochkomplexe Datensätze analysieren.

Mit mathematischen Modellen und computerbasierten Simulationen will der Wissenschaftler Immunprozesse entschlüsseln: Wie läuft eine Immunantwort bei Entzündungen und Infektionen oder bei der Abwehr von Krebserkrankungen ab? Wie entwickeln und spezialisieren sich Immunzellen, wie interagieren und wie wirken sie miteinander, und was hält die Abwehrreaktion des Immunsystems aufrecht, z. B. nach einer Impfung oder einer Immuntherapie gegen Krebs? Wie wird die Immunantwort in Balance gehalten, sodass sie weder zu stark noch zu schwach ist, und wie beeinflusst oder verhindert sie die krankhafte Veränderung von Geweben – etwa, wenn diese mit Grippe- oder Hepatitisviren infiziert sind? Diesen und anderen Fragen widmet sich Frederik Graw, der 2010 an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich in Theoretischer Immunologie promovierte. Nach einem zweijährigen Forschungsaufenthalt am Los Alamos National Laboratory in den USA arbeitete er zehn Jahre lang an der Universität Heidelberg. Anfang 2023 kam er nach Erlangen, wo er nun in der Medizin 5 und unter dem Dach des Deutschen Zentrums Immuntherapie des Uniklinikums Erlangen forscht.

Dynamik statt Momentaufnahme

„Um eine effektive Immunantwort aufzubauen, braucht es verschiedene Untergruppen von Immunzellen“, erklärt Frederik Graw. „Wir versuchen nachzuvollziehen, wie sich die Immunantwort im Einzelfall ausbildet, welchen Dynamiken sie folgt und wie entscheidend gewisse Zelltypen für die Arbeitsweise und die Effektivität einer Immunantwort sind.“ Um diese komplexen Dynamiken zu verstehen, kombiniert Prof. Graws Arbeitsgruppe experimentelle und klinische Datensätze mit mathematischen Modellen und computerbasierten Simulationen. „Normalerweise haben wir in der Medizin ja nur Momentaufnahmen – also z. B. Blutproben eines Patienten zum Zeitpunkt A und zum Zeitpunkt B. Die genaue Entwicklung hin zum krankhaft veränderten Gewebe oder zur Immunantwort wird daraus nicht direkt ersichtlich. Mithilfe unserer Modelle versuchen wir, die einzelnen Momentaufnahmen miteinander zu verknüpfen, um die versteckten Dynamiken dahinter, also die gesamte Immunreaktion, nachzuvollziehen“, sagt Prof. Graw. Mit solchen Modellierungen lassen sich Krankheitsprozesse und die darauf folgende Reaktion des Immunsystems nachahmen. Dabei greifen Forschende auf unterschiedliche experimentelle und klinische Daten zurück: Mikroskopieaufnahmen von Zellen, Messungen aus Blutproben oder Bilddaten. „Eben alles, was Informationen liefert, um zu verstehen, wie sich verschiedene Zellarten verhalten, wie sie sich weiterentwickeln und vermehren und wie sie die Immunreaktion beeinflussen“, erläutert Frederik Graw. „Ohne eine enge Interaktion und Kollaboration mit experimentellen und klinischen Arbeitsgruppen, die die nötigen Daten zur Verfügung stellen und im gegenseitigen Austausch erstellen, wären diese Arbeiten nicht möglich.“ Die Modelle werden dabei immer wieder mithilfe rechenaufwendiger Algorithmen so an die medizinischen Daten angepasst und mit ihnen abgeglichen, dass sie die Daten widerspiegeln und Rückschlüsse auf die zugrunde liegenden Prozesse erlauben.

Wie das Immunsystem Infektionen bekämpft

In seiner bisherigen Forschung hat sich Frederik Graw insbesondere mit Infektionen und der Interaktion verschiedener Erreger mit dem Immunsystem beschäftigt: Wie breitet sich ein Virus wie HIV oder SARS-CoV-2 innerhalb eines Gewebes aus? Wie reagiert das Immunsystem und wie können auch begleitende Infektionen mit anderen Erregern den Krankheitsverlauf beeinflussen? Wie läuft etwa eine SARS-CoV-2-Infektion ab, wenn es parallel dazu eine Ansteckung mit Grippeviren gibt? Bestehen Synergien zwischen den Erregern und hat dies einen Einfluss auf die Schwere der Erkrankung bzw. auf den Krankheitsverlauf? Die Beantwortung dieser grundlegenden biologischen Fragen kann Ärztinnen und Ärzten letztlich dabei helfen, geeignete Therapiestrategien für ihre Patientinnen und Patienten auszuwählen.

Effektive Krebstherapien entwickeln

In den kommenden Jahren will sich Prof. Graw zudem speziell mit der Immuntherapie gegen Krebs beschäftigen. Dabei geht es vor allem darum, besser zu verstehen, wie sich das Immunsystem im Rahmen einer zellbasierten Immuntherapie mit sogenannten CAR-T-Zellen verhält – das sind gentechnisch veränderte Immunzellen, die Krebszellen erkennen und bekämpfen können, und die am Uniklinikum Erlangen bereits erfolgreich gegen bestimmte Krebs- und Autoimmunerkrankungen eingesetzt werden. Die Arbeitsgruppe um Prof. Graw will u. a. herausfinden, welche Prozesse die Immunantwort bei dieser Therapie so steuern, dass die Körperabwehr zwar stark aktiviert wird, jedoch nicht über das Ziel hinausschießt. Ähnliches sehen sich die Forschenden bei der allogenen Stammzelltransplantation an. Dabei kann es passieren, dass das fremde Immunsystem eine Graft-versus-Host-Disease auslöst, das heißt eine Transplantat-gegen-Wirt-Reaktion: In bis zu 60 Prozent der Fälle greifen die Immunzellen der Stammzellspenderin oder des -spenders den Körper der Empfängerin oder des Empfängers an. „Auch hier interessiert uns, was die Immunreaktion aktiviert und steuert und was den Erfolg einer Therapie beeinflusst. Am Ende wollen wir mit unserer Forschung helfen, die Frage zu beantworten, wie eine Stammzell- oder CAR-T-Zell-Therapie im Einzelfall verlaufen wird beziehungsweise wie sie sich effektiv gestalten lässt“, so Prof. Graw.

Darüber hinaus untersucht Frederik Graw gewebe- und tumorspezifische Immunantworten. „Wir wollen uns beispielsweise ansehen, was in der Mikroumgebung eines Tumors passiert, wie sich lokale Immunantworten ausbilden und wie der Tumor von Immunzellen infiltriert wird.“ Der Wissenschaftler kooperiert dabei mit Kolleginnen und Kollegen am Uniklinikum Erlangen sowie mit internationalen Forschungsgruppen, die an Organoiden aus verschiedenen humanen Gewebezellen, etwa aus Darm und Lunge, arbeiten. „Je nachdem, welche Gewebestruktur vorliegt, welche Zellen und Molekülkonzentrationen sich dort finden, variieren Immunantwort und Krankheitsverlauf“, sagt er. „Mit Modellen, die es uns erlauben, die Prozesse auf Einzelzellebene zu verfolgen und zu simulieren, wollen wir erforschen, welchen Regeln diese Dynamiken folgen und welche Faktoren sie regulieren.“ Ein verbessertes Verständnis dieser Prozesse soll schlussendlich dazu beitragen, die Entwicklung geeigneter Therapiekonzepte zu unterstützen.

Weitere Informationen:

Prof. Dr. Frederik Graw
09131 85-35954
frederik.graw(at)uk-erlangen.de