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Das schönste Geschenk für die große Schwester

Das schönste Geschenk für die große Schwester

Niere des Bruders hilft schwer kranker Pflegefachkraft – DTG-Tagung 2022 in Erlangen thematisiert Bedeutung von Lebendspenden

Endlich kannte Irmgard Haack die Ursache für die zahlreichen Beschwerden, unter denen sie seit Langem litt: Im Sommer 2014 wurde bei ihr eine schwere Vaskulitis diagnostiziert – das ist eine chronische Gefäßentzündung, bei der das Immunsystem die Blutgefäße angreift. Bei der zum Zeitpunkt der Diagnose 51-jährigen Pflegefachkraft waren neben der Lunge, den Ohren, der Nase und der Haut vor allem ihre Nieren betroffen und das zuletzt so massiv, dass Ende 2021 die Entscheidung für eine Dialyse alternativlos war. Jetzt, im September 2022, bekam Irmgard Haack von ihrem drei Jahre jüngeren Bruder im Transplantationszentrum Erlangen-Nürnberg (Sprecher: Prof. Dr. Michael Weyand) am Uniklinikum Erlangen eine seiner Nieren. Ein außergewöhnlicher Eingriff, da die Blutgruppen der beiden Geschwister nicht übereinstimmen. „Wir arbeiten im Fall einer Lebendspende mit inkompatiblen Blutgruppen mit einem sehr effektiven Verfahren, bei dem eine einmalige medikamentöse Infusion mit mehreren Blutwäschen kombiniert wird“, berichtet Dr. Katharina Heller, Leiterin der Geschäftsstelle des Transplantationszentrums Erlangen-Nürnberg. Patientinnen und Patienten mit besonderen Fallgeschichten wie jener von Irmgard Haack stehen im Fokus der 31. Jahrestagung der Deutschen Transplantationsgesellschaft e. V. (DTG), die vom 29. September bis zum 1. Oktober 2022 in Erlangen unter der Präsidentschaft von Prof. Dr. Mario Schiffer, Direktor der Medizinischen Klinik 4 – Nephrologie und Hypertensiologie des Uniklinikums Erlangen, stattfindet.

„Ich spende Dir eine Niere!“ Dieser bedeutungsschwere Satz fiel im August 2021 bei einer gemeinsamen Radtour der Geschwister durch die Fränkische Schweiz, als Irmgard Haack ihrem Bruder nach langem Zögern gestand, dass sie zum Jahreswechsel mit der Dialyse beginnen muss. „Meine Reaktion war impulsiv, aber nicht unüberlegt“, erinnert sich Hans-Jürgen Fiedler. „Seit Beginn von Irmgards Erkrankung 2014 hatte ich diese Option immer wieder im Kopf.“ Der kaufmännische Angestellte wusste von einem Kollegen, dass dieser seiner Frau bereits vor Jahren eine seiner Nieren gespendet hatte. Beiden – der Empfängerin und dem Kollegen – ging es seit der Transplantation, die ebenfalls im Uniklinikum Erlangen vorgenommen wurde, sichtbar besser. „Sie konnten endlich wieder normal leben“, so der Eindruck von Hans-Jürgen Fiedler, der – als einer von insgesamt vier Brüdern – zur ältesten Schwester schon seit früher Kindheit eine besonders enge Beziehung hatte. „Wir konnten uns schon immer gut ineinander einfühlen“, bestätigt Irmgard Haack. Dennoch hätte sie ihren Bruder niemals um diese weitreichende Entscheidung bitten können, ist sich die heute 59-Jährige sicher. „Das ist so ein unwiderruflicher Schritt und ein Geschenk, für das ich ihm niemals dankbar genug sein kann“, sagt sie mit Tränen in den Augen. „Zumal ich auf der Eurotransplant-Warteliste für Nierenspenden mit meiner Blutgruppe so gut wie keine Chance hatte.“

Völlig inkompatible Blutgruppen

Nicht nur emotional, sondern auch genetisch harmonieren die beiden Geschwister perfekt miteinander – das ergab die Spenderuntersuchung, die Hans-Jürgen Fiedler noch im August 2021 am Uniklinikum Erlangen vornehmen ließ. „Dr. Heller nennt es ein Full-House-Match“, lächelt Irmgard Haack. „Das Einzige, das überhaupt nicht zusammenpasste, waren unsere Blutgruppen.“ Die doppelte Blutgruppeninkompabilität von Bruder und Schwester war eine Herausforderung für die Transplantation, bestätigt auch Katharina Heller. „Mit ihrer Blutgruppe 0 bildet die Patientin nicht nur Antikörper gegen die (Major-)Blutgruppe A ihres Bruders, sondern zusätzlich auch gegen ein weiteres, untergeordnetes (Minor-) Blutgruppenmerkmal. Da Blutgruppenmerkmale auf den Gefäßwänden der Organe vertreten sind, hätte das unbehandelt zu einer Abstoßung des Organs noch auf dem OP-Tisch geführt.“

Effektiv: Kombination aus Infusion und Blutwäsche

Diese Komplikation räumt das Erlanger Transplantationszentrum aber glücklicherweise mit einem Kombinationsverfahren erfolgreich aus dem Weg: „Wir stoppen zuerst die Bildung von Antikörpern mit einer einmaligen medikamentösen Infusion etwa vier Wochen vor der OP. Im zweiten Schritt lösen wir die bereits vorhandenen Antikörper mittels mehrerer Blutwäschen aus dem Körper, bis der notwendige Antikörperwert bei mindestens 1:4 liegt“, erläutert Prof. Schiffer. Der Antikörperwert von Irmgard Haack lag vor der Kombibehandlung bei 1:256. Bislang betrug der höchste am Uniklinikum Erlangen je gemessene Antikörperwert vor einer erfolgreich transplantierten blutgruppeninkompatiblen Lebendnierenspende 1:4096, erinnert sich Mario Schiffer.

Eingriff ohne Komplikationen

Dank der umfassenden Vorbereitung verlief die Transplantation des Organs auch in diesem Fall komplikationslos, und die Niere von Hans-Jürgen Fiedler nahm im Körper von Irmgard Haack umgehend ihre Arbeit auf. „Alle meine Genesungswerte sind hervorragend“, vermeldete die glückliche Patientin wenige Tage nach dem Eingriff. Klinikdirektor Mario Schiffer überzeugte sich bei persönlichen Besuchen selbst davon, dass das Geschwisterpaar die mehrstündige Operation gut überstanden hatte: „Eine inkompatible Blutgruppenkonstellation stellt das Behandlungsteam stets vor eine besondere Herausforderung. Umso mehr freue ich mich, dass es uns auch in diesem Fall wieder gelungen ist, trotz der ungünstigen Voraussetzungen erfolgreich zu transplantieren.“

Zurück ins Arbeitsleben

Nach Abschluss der notwendigen Reha-Maßnahmen möchte Irmgard Haack sobald wie möglich wieder als Pflegefachfrau ans Uniklinikum zurückkehren. „Ich habe ja auch trotz meiner Vaskulitis all die Jahre gearbeitet und hoffe nun, dank der Niere meines Bruders, meinen Dienst bald wieder aufnehmen zu können“, freut sich die Patientin. „Mir geht es schon jetzt, unmittelbar nach dem Eingriff, soviel besser als vorher. Die Immunsuppressiva, die ich künftig einnehmen muss, damit mein Körper die fremde Niere nicht abstößt, wirken sich auch positiv auf die Vaskulitis aus“, sagt die Empfängerin des Spenderorgans freudestrahlend.

DTG-Jahrestagung thematisiert Organspenden als interdisziplinäre Herausforderung

Bei einer Nierentransplantation wie der von Irmgard Haack sind am Uniklinikum Erlangen Medizinerinnen und Mediziner u. a. aus den Fachbereichen Nephrologie, Urologie sowie Gefäßchirurgie beteiligt. „Diese enge interdisziplinäre Zusammenarbeit ist der entscheidende Faktor für die erfolgreiche Arbeit unseres Transplantationszentrums“, betont Mario Schiffer. Als Tagungspräsident der diesjährigen DTG-Tagung in Erlangen hat er unter dem Leitthema „Der holistische Transplantationsansatz“ die interdisziplinären Herausforderungen bei Transplantationen als Themenschwerpunkt gesetzt. „Dabei wollen wir die Gesamtsituation von Betroffenen betrachten und vor allem die Besonderheiten von jungen und alten Patientinnen und Patienten thematisieren sowie den Fokus auf besondere Vorerkrankungen wie zum Beispiel die seltene Vaskulitis richten“, erläutert der Nephrologe, der am Uniklinikum Erlangen bereits 2018 mit dem Programm „NTx 360°“ eine interdisziplinäre Rundumversorgung bei Nierentransplantationen einführte. Bei der 31. Jahrestagung der DTG treffen sich rund 600 Expertinnen und Experten aus ganz Deutschland in der Hugenottenstadt, um sich über das Schwerpunktthema sowie aktuelle Entwicklungen auf dem Gebiet der Transplantationsmedizin auszutauschen und miteinander zu diskutieren

Blick auf Lebendspenderinnen und -spender

Nach der erfolgreichen Operation beginnt im Transplantationszentrum Erlangen-Nürnberg nicht nur für Irmgard Haack ein umfassendes Nachsorgeprogramm, sondern auch für ihren Bruder: „Wir bieten Lebendspenderinnen und -spendern eine lebenslange Betreuung an, die etwa acht Wochen nach dem Eingriff mit einem ersten Termin beginnt und sechs Monate nach der Transplantation mit einer weiteren Untersuchung fortgeführt wird“, erklärt Katharina Heller. „Danach folgt kontinuierlich jedes Jahr ein weiterer Kontrolltermin. Zusätzlich haben wir für Menschen, die mit einer Einzelniere leben, eine regelmäßige Sprechstunde eingeführt, in der sie ihre Situation individuell betrachten lassen können.“ Hans-Jürgen Fiedler will dieses Angebot in jedem Fall für sich in Anspruch nehmen und ist genau wie seine Schwester nur wenige Tage nach der mehrstündigen Operation voller Elan und Optimismus. „Jetzt bin ich einmal mehr froh, diese Entscheidung getroffen zu haben“, sagt der 56-Jährige. „Ich hätte nicht mit dem Gedanken weiterleben können: Es wäre gegangen, aber ich habe es nicht probiert.“

Informationen zur 31. Jahrestagung der DTG 2022 in Erlangen

Weitere Informationen:

Dr. Katharina Heller

09131 85-36025

tx-geschaeftsstelle(at)uk-erlangen.de