Zum Hauptinhalt springen

Abschied am Anfang

Geschätzt jede dritte Frau verliert ihr Baby im Lauf der Schwangerschaft – kaum eine spricht darüber. Mit ihrer Trauer fühlen sich die Betroffenen deshalb oft allein.

„Jeder Trauerprozess ist einzigartig, trotz ähnlicher Erfahrungen. Das müssen wir anerkennen“, sagt Beatrix Kozjak-Storjohann, Leiterin des Psychosozialen Diensts der Frauenklinik des Uniklinikums Erlangen. Ihr Team begleitet u. a. Frauen bzw. Paare, die während der Schwangerschaft ein Kind verloren haben, die eine Risikoschwangerschaft erleben oder sich einer Kinderwunschbehandlung unterziehen. Wenn ein Kind stirbt, bevor sein Leben richtig beginnt, kann das für die Mütter und Väter traumatisch sein. „Dabei macht es manchmal keinen Unterschied, ob es sich um eine frühe Fehlgeburt vor der 12. Schwangerschaftswoche handelt oder um eine Totgeburt in der 38. Woche“, betont Beatrix Kozjak-Storjohann. „Wenn eine Frau schon lange versucht, schwanger zu werden und viele Nerven, Emotionen, Zeit und Kosten in die Familienplanung investiert hat, kann ihre Belastung durch den Verlust ähnlich hoch sein wie beim Tod eines Kindes in einer späteren Schwangerschaftswoche“, berichtet sie. Trauer ist nicht vergleichbar.

Bis zu den Sternen

Sternenkinder „kommen in den Himmel“, bevor sie das Licht der Welt gesehen haben. Vielen Eltern hilft es, wenn sie ihr verstorbenes Baby noch einmal sehen und halten dürfen, wenn sie ihm einen Namen geben, bewusst Abschied nehmen und es später an einem Grab besuchen können. „Das Team der Frauenklinik erstellt, wenn möglich, auch zusätzliche Ultraschallbilder, Fotos oder Fußabdrücke als Erinnerung“, erklärt Beatrix Kozjak-Storjohann. Neben Einzelgräbern für Sternenkinder gibt es auf dem Erlanger Zentralfriedhof seit 20 Jahren ein gemeinsames Grab für Babys, die vor der 24. Schwangerschaftswoche tot geboren wurden und dabei weniger als 500 Gramm wogen (= Fehlgeburten). Jedes Jahr im März und Oktober wird für alle früh verstorbenen Kinder ein Gedenkgottesdienst abgehalten. „Damit würdigen wir die Kinder und die Trauer der Eltern“, erklärt die Trauerbegleiterin. „Paare können ihr Baby seit 2013 auch standesamtlich eintragen lassen und ihm so eine offizielle Existenz geben. Das war vorher für Sternenkinder unter 500 Gramm nicht möglich. Die Urkunde bekommen Frauen auch rückwirkend nach vielen Jahren. Sie kann sehr tröstlich sein.“ Tabuisierte Gefühle Im Rahmen der Trauerbewältigung bieten Beatrix Kozjak-Storjohann und zwei Kolleginnen ambulanten und stationären Patientinnen der Frauenklinik bis zu sechs Gespräche an. Daran können sie eine weiterführende Psychotherapie anschließen. Studien zufolge zeigen bis zu 20 Prozent aller Frauen nach einer Fehlgeburt Anzeichen einer Depression. Und während die eigene Welt zusammenbricht, dreht sie sich für alle anderen einfach weiter. Viele Betroffene fühlen sich dann umso einsamer mit ihrer Trauer, mit Scham, Schuld und dem Gefühl, versagt zu haben. Dazu kommt vielleicht die Angst vor einem weiteren Verlust in einer erneuten Schwangerschaft oder Neid, wenn andere Paare Eltern werden.

Reden als Kontakt zur Welt

„Ich empfehle den Frauen – und ihren Partnern –, über ihre Erfahrungen zu sprechen oder sie aufzuschreiben, wenn sprechen nicht geht“, sagt Beatrix Kozjak-Storjohann. Freundinnen, Kollegen und Familienangehörige sollten die Verlusterfahrung nicht bagatellisieren mit Sätzen wie „Du bist noch jung, das wird schon“ oder „Wenn du nicht mehr dran denkst, klappt es irgendwann“. Hilfreicher ist es, echtes Interesse zu zeigen und die negativen Gefühle anzuerkennen. „Schicken Sie Ihrer Freundin zum Beispiel eine Kondolenzkarte oder ein schönes Symbol, das an ihr Kind erinnert“, nennt die Trauerbegleiterin Beispiele. Bei Selbsthilfegruppen ist sie geteilter Meinung: „Natürlich hilft es, sich mit Menschen auszutauschen, die Ähnliches erlebt haben. Wenn ich aber zu viele tragische Schilderungen aus verschiedenen Schwangerschaftswochen kenne, kann das eine Folgeschwangerschaft auch belasten“, gibt sie zu bedenken. Grundsätzlich kann es sehr unterschiedlich sein, wie Frauen einen Verlust erleben und verarbeiten. „Es gibt kein Richtig oder Falsch. Alles kann, nichts muss“, sagt Beatrix Kozjak-Storjohann.

„Sobald die Frau den Herzschlag ihres Kindes im Ultraschall gesehen hat, baut sie Bindung auf. Der Abschied ist dann meines Erachtens noch schwerer.“

Beatrix Kozjak-Storjohann

Wissen entlastet

Fehl- und Totgeburten in der Öffentlichkeitsarbeit von Kliniken, in den (sozialen) Medien und mit öffentlichen Gedenkfeiern zu thematisieren, ist entscheidend für deren Enttabuisierung. Auch die Wanderausstellung „Tod am Anfang des Lebens“, die 2012 von der Erlanger Frauenklinik und dem Hospiz-Verein Erlangen e. V. konzipiert wurde und seitdem auf Reisen ist, leistet ihren Beitrag dazu. Mit „letzten Bettchen“ zeigt sie sensibel die Wertschätzung, die Mütter und Väter ihren früh verstorbenen Kindern entgegenbringen, und macht so sichtbar, was Paare vor 50 Jahren noch ganz bewusst verschwiegen und verdrängt haben. Bald soll die Ausstellung auch wieder in Erlangen Halt machen.

„Wir sind froh, dass wir es öffentlich gemacht haben“

Marina H.* erzählt davon, wie sie den Verlust ihres dritten Kindes erlebte, was ihr half und was sich seitdem verändert hat.

„Wir wollten mal ganz viele Kinder haben. Nach unseren zwei Jungs passierte lange nichts. Dann, mit 41, war ich zum dritten Mal schwanger. Wir haben uns total auf dieses Wunschkind gefreut, haben niemandem etwas erzählt und wollten alle überraschen. Doch bei der Pränataldiagnostik stellte sich heraus, dass unsere Tochter Trisomie 18 hat und nicht lebensfähig ist. Der Kopf verstand, was das heißt, aber die Seele rebellierte. In der 21. Schwangerschaftswoche hörte ihr Herz auf zu schlagen. Mit Medikamenten und Hormonen wurde die Geburt eingeleitet. Ich war nicht darauf gefasst, was da emotional mit mir passierte. Ich empfand die Freude über die Geburt meines Kindes und war gleichzeitig unendlich traurig darüber, dass ich es tot im Arm hielt. Dieser Zwiespalt setzte sich in meinem Alltag fort. Wenn meine Kinder etwas Tolles machten, liefen mir manchmal die Tränen runter. Ich konnte nicht mehr zwischen Freude und Trauer unterscheiden. Die ersten Gespräche mit Frau Kozjak-Storjohann waren für mich sehr wertvoll. Sie ordnete alles ein und ergründete mit mir, welche Gefühle ich durchlebte und warum. War da Angst, Leere, vielleicht auch Wut? Dann machte ich zwei Jahre lang eine Psychotherapie. Nach der Fehlgeburt hatten wir uns entschieden, Familie, Freunde und Nachbarn zu einer Beerdigung und einer Gedenkfeier einzuladen. Es war ein Befreiungsschlag. Es kamen unglaublich viele Menschen und so viele haben sich danach bei uns gemeldet und erzählt, dass sie Ähnliches erlebt hatten. Viele wussten nicht, dass ein Einzelgrab immer möglich ist, sie kannten nur die Sammelbestattungen. Ich habe mich dafür eingesetzt, dass es auf unserem Friedhof im Ort 20 Plätze für Sternenkinder gibt. Nach anderthalb Jahren sind jetzt schon acht vergeben. Für uns ist es schön, einen Trauerort zu haben. Zwei Jahre lang war ich fast täglich dort. Die Kerze von der Aussegnung im Krankenhaus zünden wir noch immer für Lara* an. Die zwei Jungs wissen, dass ihre Schwester zur Familie gehört, wir sprechen offen darüber. Jeder von ihnen hat einen Teddy bekommen. Er ist so groß, wie Lara damals war. Ich glaube schon, dass es einen anderen Menschen aus einem macht. Ich lebe heute bewusster und wertschätze viel mehr, was ich habe – die Familie, die da ist. Das Thema Kinderwunsch ist für uns abgeschlossen.“

* Name von der Redaktion geändert

Text: Franziska Männel/Uniklinikum Erlangen; zuerst erschienen in: Magazin „Gesundheit erlangen“, Winter 2022/23

Die ersten 12

Die meisten Fehlgeburten ereignen sich zwischen der 5. und 7. Schwangerschaftswoche. Nach der 12. Woche ist das Risiko deutlich reduziert. Dennoch sind Verluste auch später noch möglich.

Anspruch auf eine Auszeit?

Sternenkinder sind Kinder, die vor, während oder kurz nach der Geburt versterben. Verliert eine Frau ihr Baby vor der 24. Schwangerschaftswoche (SSW) und wiegt es unter 500 Gramm, spricht man von einer Fehlgeburt. Ab der 24. SSW oder bei einem Gewicht von mindestens 500 Gramm handelt es sich um eine Totgeburt. Im letzten Fall hat die Frau Anspruch auf Mutterschutz, bei einer Fehlgeburt steht er ihr nicht zu. Das heißt: Eine Schwangere, die ihr Kind in SSW 24 + 0 (Tage) verliert, bekommt Mutterschutz. Eine, die es in SSW 23+6 verliert, bekommt ihn nicht. Dazwischen liegt nur ein Tag. Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner der Petition „Einführung eines gestaffelten Mutterschutzes“ fordern die Aufhebung dieser starren, für sie ungerechten Grenze und ein staatliches Schutzangebot für alle Mütter mit Verlusterfahrungen.

Licht für dich

Am zweiten Sonntag im Dezember (11.12.2022) ist Candle Lighting Day. An diesem Tag gedenken weltweit Eltern ihrer Kinder, die vor, während oder kurz nach der Geburt gestorben sind, indem sie eine Kerze ans Fenster stellen (in Deutschland um 19.00 Uhr).