Den eigenen Weg finden und dabei Pausen machen, den Blick auf kleine Dinge richten, die Freude bereiten, Gemeinschaft erleben: Diese Erfahrungen erlaubt das alljährliche „Pilgern mit NET“.

Sie laufen und laufen, Tag für Tag. Meist gehen die Pilgerinnen und Pilger nebeneinander her, hin und wieder wandern sie allein – in Stille. Sieben bis zwölf Kilometer täglich, eine Woche lang. „Die meiste Zeit wird dabei geredet“, erzählt Teilnehmerin Susanne U. Zweimal war die 67-Jährige schon beim Pilgern dabei. Seit 2019 wird die Tour für Menschen mit neuroendokrinen Tumoren (NET) angeboten – entlang des Lippischen Pilgerweges im Teutoburger Wald. Susanne U. bekam ihre Diagnose 2020: Primärtumor im Dünndarm, multiple Lebermetastasen, monatliche Medikamentenspritzen, um das Wachstum und die Hormonausschüttung des Tumors auszubremsen. Zweimal wurde Susanne U. seitdem am Darm operiert – einmal am Uniklinikum Erlangen, einmal in ihrer Heimat in Niedersachsen. Vor dem Pilgern hatte sie entsprechend großen Respekt: „Ich war relativ unsicher: Was, wenn mein Darm unterwegs verrücktspielt? Wenn ich abbrechen muss?“ Sie habe deshalb lang mit Irmgard Baßler telefoniert, Fachärztin für Innere Medizin und NET-Expertin. Sie begleitet jede Tour. „Frau Baßler ist die Seele der Gruppe. Sie kannte alle meine Bedenken schon von anderen Betroffenen und machte mir Mut, es zu versuchen“, berichtet Susanne U. Im Herbst 2022 traute sie sich.

Die individuelle Frikadelle

Eine mitpilgernde Ärztin, eine Sporttherapeutin als „Nachhut“ und ein Begleitfahrzeug, das einen im Notfall aufsammelt, bilden für die Teilnehmenden ein „Sicherheitsnetz – wie im Zirkus“, so beschreibt es Pilgerin Allegra S. Scham oder Angst bezüglich der eigenen Beschwerden seien nicht nötig, denn alle Gruppenmitglieder kennen die Probleme und eine Notfallversorgung ist sichergestellt. Eine weitere Besonderheit des NET-Pilgerns: Die Gruppe übernachtet nicht jeden Tag an einem anderen Ort, sondern kehrt nach jeder Etappe in dasselbe Hotel in Bad Meinberg zurück – eine frühere Rehaklinik, an einem idyllischen Kurpark gelegen. „Die Versorgung in unserem Basislager ist spitze“, findet Allegra S., die nach eigener Aussage „einen Sack voller Allergien“ mit sich herumträgt und nicht alles essen kann. „Die gehäutete Tomate zum Frühstück und die Frikadelle ohne Eiklar zum Abendessen werden dort ganz selbstverständlich zubereitet.“ Und so, wie das Hotelteam mitdenkt, so tun es auch die Pilgernden füreinander: „Einmal hatte ich noch gar nicht richtig ausgesprochen, dass ich jetzt sofort etwas zu essen brauche, weil ich mich unterzuckert fühle, da stand schon jemand mit einem Stück Schokolade neben mir – weil einfach alle diese Situationen kennen und wissen, worauf es ankommt“, berichtet Susanne U. Sie hätte nicht gedacht, dass sie mit „wildfremden Menschen“ so eine Vertrautheit erleben könnte. Und dass dabei so viel gelacht wird. Jeder Abend im Hotel wird anders gestaltet: Es gibt Vorträge zum Pilgern, einen medizinischen Abend für offene Fragen, psychologische Hilfe und Spielerunden. „Ich bin wirklich kein großer Fan von Spielen“, gesteht Susanne U. „Und dann tat mir ausgerechnet an diesem Abend so sehr der Bauch weh – aber vor Lachen!“ Viele Teilnehmende melden sich wegen der verbindenden Erfahrung mehrfach zum Pilgern an und bleiben auch danach in Kontakt. Auch Angehörige dürfen sich der Tour anschließen.

„Ihr könnt lange damit leben“

Das Symboltier der NET-Patientinnen und -Patienten ist das Zebra. Es soll die Seltenheit und zugleich die Einzigartigkeit jeder einzelnen Erkrankung verkörpern. Nur zwei Prozent der Menschen mit Krebs haben einen neuroendokrinen Tumor. Die Krankheit wird deshalb auch von Medizinerinnen und Medizinern oft übersehen. „Bei Hufgetrappel also nicht nur an Pferde denken, sondern auch an Zebras“, erinnert NET-Patientin Allegra S., die früher selbst als Krankenschwester gearbeitet hat. Kürzlich erhielt die 65-Jährige den Mutmacherpreis des Netzwerks Neuroendokrine Tumoren (NeT) e. V. Ihre Krebs-OP lag zu diesem Zeitpunkt schon 17 Jahre zurück. „Ich bin also ein alter Hase und kann anderen Betroffenen sagen: Ihr könnt lange damit leben. Es hilft, sich zu vernetzen und sich Wissen anzueignen.“ Bewegung, darunter das Pilgern in Lippe, ist für Allegra S. ein Weg aus ihrer Fatigue. „Ich bin ein Sportmuffel und finde zu Hause immer Dinge, die vermeintlich wichtiger sind. Aber eigentlich tut mir das Aktivsein gut und ich habe danach nicht weniger Energie – im Gegenteil.“

Unterwegs auf dem Lebens-Weg

Der Lippische Pilgerweg führt entlang weiter Felder, vorbei an Fachwerkhäusern und durch stille Buchenwälder. Ihn säumen Obstbäume zum Naschen, markante Felsen, Schlösser, Türme und Kirchen. Wie die Wanderetappen müssen die Pilgernden auch ihre Krankheit bewältigen und dabei ihren eigenen Weg finden. Doch das Gehen in der Gruppe lehrt, dass sie dabei nicht allein sind; dass es Gefährtinnen und Gefährten gibt, die denselben Weg vor sich haben und dieselben Hindernisse überwinden müssen. Dabei dürfen alle unterwegs immer wieder stehenbleiben und erkennen, was alles Schönes und Stärkendes da ist, neben all der Anstrengung. Sonnenstrahlen, gute Gespräche, Kaffee und Kuchen am Nachmittag. „Trotz der täglichen Aktivität waren wir alle nach der Woche wirklich erholt, auch geistig. Das Gehen in der Natur empfand ich als entschleunigend und fast meditativ, die Reise zu Fuß auch irgendwie als Sinnbild für unsere Schritte im Leben“, so beschreibt es Susanne U. Immer wieder gibt es Phasen, in denen die Wandernden angehalten sind, nicht zu sprechen und die Natur in Ruhe auf sich wirken zu lassen – ihre Farben, Geräusche und Düfte. „Mit Fantasie entdeckte ich plötzlich ein Gesicht in der Rinde eines Baumes und unheimlich viele wunderschöne Pilze“, berichtet Sandra K. über ihre Erfahrungen im Pilgerherbst 2023. Tage- und wochenlange Fußmärsche sind für die 51-Jährige, der ein Teil ihrer Bauchspeicheldrüse fehlt, nicht neu. Seit ihrer NET-Diagnose lief sie schon den Camino Francés nach Santiago de Compostela, pilgerte auf dem Bayerisch-Schwäbischen Jakobsweg und entlang der Mosel. „Beim Gehen geht’s mir gut“, sagt sie. „Neu war für mich die Gruppe, weil ich vorher immer allein unterwegs war. Mit den anderen entstand eine ganz eigene Dynamik und Energie, durch die sich alle schnell öffnen konnten. Und die Organisation war top.“ Für Susanne U. gab das Zusammensein mit Mitbetroffenen den Ausschlag dafür, überhaupt loszulaufen. Bis zu ihrer ersten Pilgerreise 2022 besaß sie weder Wanderrucksack noch Outdoorjacke. Heute ist sie voll ausgestattet. In ihrem Rucksack befinden sich nun auch zwei Pilgersteine – beschriftet mit „Habe Mut“ und „Atme“. Gestaltet hat sie Mitpilgerin Sandra K. „Ich bemale die Steine, um sie zu verschenken oder sie auf Pilgerpfaden zu hinterlassen. Dort können andere Reisende sie einstecken und ein Stück mitnehmen“, sagt sie. Der Stein in der Hand – die kleine Erinnerung daran, dass jetzt gerade nur der Weg das Ziel ist.

Text und Fotos: Sandra K. (Pilgerin), Franziska Männel/Uniklinikum Erlangen; zuerst erschienen in: Magazin „Gesundheit erlangen“, Winter 2023/24