„Was, wenn er doch noch etwas spürt?“ – Diese Frage beschäftigt viele Angehörige, wenn es um die mögliche Organspende einer nahestehenden Person geht. Transplantationsbeauftragter Prof. Dr. Carsten Willam erklärt, warum diese Sorge verständlich, aber medizinisch unbegründet ist.
Herr Prof. Willam, Sie sind einer von drei Transplantationsbeauftragten am Uniklinikum Erlangen. Welche Aufgaben und Verantwortlichkeiten bringt diese Rolle mit sich?
Als Transplantationsbeauftragter sorge ich gemeinsam mit meiner Kollegin und meinem Kollegen dafür, dass das Uniklinikum Erlangen seiner gesetzlichen Pflicht zur Meldung möglicher Organspenderinnen und -spender an die Deutsche Stiftung Organtransplantation, die DSO, nachkommt. Unsere Aufgabe beginnt damit, auf den Intensivstationen potenzielle Spenderinnen und Spender zu erkennen und alle weiteren Schritte zu koordinieren – von der Begleitung der Angehörigen bis zur Abstimmung aller innerklinischen Abläufe. Ein weiterer wichtiger Teil unserer Arbeit ist es, die Organspende im Klinikalltag zu verankern und das medizinische Personal dafür zu sensibilisieren. Wir kümmern uns also eigentlich nicht um die Transplantation, sondern um die Organspende. Genau genommen müssten wir also „Organspendebeauftragte“ heißen.
Welche Abläufe greifen im Hintergrund, wenn sich eine mögliche Spende abzeichnet?
Die Frage nach einer Organspende stellt sich immer dann, wenn bei einer Patientin oder einem Patienten ein sogenannter irreversibler Hirnfunktionsausfall festgestellt wird. Dieser ist die medizinische Voraussetzung für eine Organspende.
Sie meinen, wenn der sogenannte Hirntod vorliegt?
Genau. Was früher als „Hirntod“ bezeichnet wurde, nennen wir heute „irreversibler Hirnfunktionsausfall“ – es liegt keine Hirnfunktion mehr vor. Alle Steuerungsfunktionen des Gehirns und das Bewusstsein sind also dauerhaft und unwiederbringlich erloschen.
Wie wird dieser Zustand eindeutig festgestellt?
Wenn eine Organspende infrage kommt, weil es zum Beispiel einen Organspendeausweis gibt, ist das Diagnoseverfahren gesetzlich geregelt: Zwei speziell qualifizierte Intensivmedizinerinnen oder -mediziner – mindestens eine oder einer davon Fachärztin oder Facharzt für Neurologie oder Neurochirurgie – müssen unabhängig voneinander und nach einem standardisierten Protokoll die Diagnose stellen. Hierfür überprüfen sie unter anderem, ob die Hirnstammreflexe noch auslösen – etwa die Pupillenreaktion –, und ob sich noch ein Atemreflex hervorrufen lässt. Wichtig dabei: Diese Ärztinnen und Ärzte sind nicht an der Organentnahme oder der späteren Transplantation beteiligt – so ist sichergestellt, dass keine Interessenkonflikte bestehen.
Eine Organspende ist nur möglich, wenn die verstorbene Person das so gewollt hätte. Wie ermitteln Sie diesen Willen?
Zunächst suchen wir das Gespräch mit den Angehörigen. In vielen Fällen wissen sie, wie die oder der Verstorbene zur Organspende stand, und können eine Entscheidung in ihrem oder seinem Sinne treffen. Gleichzeitig klären wir, ob eine Patientenverfügung oder ein Organspendeausweis vorliegt, in dem der Wille dokumentiert wurde. Seit 2024 prüfen wir zusätzlich, ob eine entsprechende Erklärung im neuen Online-Organspenderegister hinterlegt ist.
Angenommen, es liegt eine schriftliche Einwilligung der oder des Verstorbenen vor, die Angehörigen sind jedoch dagegen – wessen Wille zählt dann?
Ein Organspendeausweis oder ein Eintrag im Register sind deutliche Hinweise für den mutmaßlichen Willen der verstorbenen Person. Dennoch suchen wir immer das Gespräch mit den Angehörigen. Denn manchmal ist der Ausweis schon viele Jahre alt oder der Eintrag im Register wurde unter besonderen Umständen gemacht, die heute vielleicht anders zu bewerten wären. Die Hinterbliebenen kennen die Lebensgeschichte der oder des Verstorbenen und können ihre oder seine Entscheidung einordnen.
„Der irreversible Hirnfunktionsausfall ist eindeutig feststellbar. Er markiert das Ende des Lebens.“
Also haben die Angehörigen immer das letzte Wort?
Wir führen eine Organspende niemals gegen den ausdrücklichen Wunsch der Angehörigen durch. Denn wir gehen davon aus, dass sie im Sinne der verstorbenen Person entscheiden.
Wie erleben Sie Angehörige, wenn kein Wille bekundet wurde?
Wir erleben dann häufig eine ablehnende Haltung gegenüber der Organspende. Da spielen verschiedene Gründe hinein: persönliche Lebenserfahrungen, religiöse Ansichten, aber auch Ängste.
Welche Ängste sind das konkret?
Zum Beispiel die Sorge, dass wir einen Patienten möglicherweise zu früh aufgeben oder dass die verstorbene Person doch noch am Leben sein könnte. Viele Angehörige fragen sich außerdem: Was ist, wenn wir eine Entscheidung treffen, die der oder die Verstorbene so nicht gewollt hätte? Aus Angst, etwas „falsch“ zu machen, entscheiden sie sich daher oft gegen eine Organspende.
Was sagen Sie den Angehörigen dann?
Diese Sorgen sind absolut nachvollziehbar – sie sind zutiefst menschlich. Dennoch sind sie unbegründet. Erstens: Wir geben niemanden einfach auf – unser Ziel ist es immer, Menschenleben zu retten. Zweitens ist der irreversible Hirnfunktionsausfall eindeutig feststellbar. Auf ihn folgen zwangsläufig der Atem- und der Herzstillstand sowie der Ausfall aller anderen Organe. Natürlich existieren spirituelle oder religiöse Vorstellungen vom Tod – doch rein medizinisch markiert der irreversible Hirnfunktionsausfall das Ende des Lebens.
Wie geht es danach weiter?
Nach der Zustimmung zur Organspende bleibt die oder der Verstorbene weiterhin beatmet, um die Sauerstoffversorgung der Organe bis zur Entnahme aufrechtzuerhalten. Parallel dazu informieren wir die DSO. Sie schickt dann Koordinatorinnen und Koordinatoren in die Klinik, die gemeinsam mit dem medizinischen Team vor Ort das weitere Vorgehen organisieren. Hierzu zählen verschiedene Untersuchungen, etwa um sicherzustellen, dass keine Erkrankungen vorliegen, die dem potenziellen Empfänger oder der potenziellen Empfängerin schaden könnten. Falls die Befunde unbedenklich sind, leitet die DSO alle relevanten Daten an die Stiftung Eurotransplant weiter, die dann eine geeignete Empfängerin oder einen Empfänger ermittelt.
Die oder der Verstorbene erhält also bis zur Organentnahme lebensverlängernde Maßnahmen? Viele schließen diese mittels Patientenverfügung aus – ist eine Organspende trotzdem möglich?
Wenn in der Patientenverfügung festgelegt ist, dass keine lebensverlängernden Maßnahmen gewünscht sind, steht das im Widerspruch zur Organspende. Allerdings müssen sich beide Wünsche nicht zwangsläufig ausschließen: Man kann in der Patientenverfügung vermerken, dass solche Maßnahmen nur dann erwünscht sind, wenn sie der Organspende dienen. Gibt es keinen solchen Vermerk, suche ich aber immer noch mal das Gespräch mit den Angehörigen, um zu klären, ob der mutmaßliche Wille der verstorbenen Person möglicherweise doch eine Organspende umfasst. Wichtig ist: Bei Unklarheit erfolgt keine Organentnahme.
Wie läuft die Organentnahme letztlich ab?
Die Organentnahme wird von Ärztinnen und Ärzten durchgeführt, die explizit dafür qualifiziert sind. Die Reihenfolge der Organentnahmen ist dabei streng geregelt. Das Herz ist beispielsweise ein besonders empfindliches Organ, dessen Transplantation möglichst zeitnah erfolgen muss. Daher wird es in der Regel auch als Erstes entnommen. Anschließend werden die Organe an die jeweiligen Transplantationszentren weitergeleitet.
„Wir alle sollten uns fragen: Würde ich in einer lebensbedrohlichen Situation ein Organ annehmen wollen?“
Ist Ihre Tätigkeit damit abgeschlossen?
Nein. Nach der Entnahme kümmern wir uns um das behandelnde Team vor Ort. Eine derartige Ausnahmesituation ist auch für das medizinische Fachpersonal belastend. Zudem fallen administrative Aufgaben an.
Erhalten Sie Kenntnis darüber, ob eine Transplantation erfolgreich war?
Wenn uns die DSO anonymisiert darüber informiert, wie vielen Menschen die Organspende ein neues Leben geschenkt hat, sind das mit die schönsten Momente meiner Tätigkeit. Diese teile ich immer gern auch mit meinem Team.
Gibt es einen Fall, der Sie nachhaltig beschäftigt?
Ich begleite etwa fünf bis fünfzehn Organspenden pro Jahr, potenzielle Spenderinnen und Spender gibt es aber viel mehr. Ich erinnere mich an alle – jede einzelne Geschichte hat mich berührt.
Was möchten Sie unseren Leserinnen und Lesern noch mit auf den Weg geben?
Wir alle sollten uns bewusst mit dem Thema Organspende auseinandersetzen und unseren Willen ausdrücklich bekunden. Denn niemand ist davor geschützt, selbst einmal auf ein Spenderorgan angewiesen zu sein. Man sollte sich also fragen: Würde
ich in einer lebensbedrohlichen Situation ein Organ annehmen wollen? Oder wäre es mir wichtig, dass ein nahestehender Mensch ein Spenderorgan bekommt? Wer diese Fragen für sich beantwortet, dem fällt die Entscheidung zur Organspende leichter – egal, wie sie letztlich ausfällt.
Gesetzliche Pflicht
Jedes Krankenhaus mit einer Intensivstation ist gesetzlich dazu verpflichtet, Transplantationsbeauftragte zu benennen. Die Anzahl richtet sich nach der Zahl der Intensivbetten. Transplantationsbeauftragte – in der Regel Fachärztinnen und Fachärzte für Intensivmedizin, Neurologie oder verwandte Fachbereiche – absolvieren eine spezielle Weiterbildung zu den medizinischen, rechtlichen und ethischen Aspekten der Organspende.
Videobeitrag:
Text: Magdalena Högner/Uniklinikum Erlangen; Fotos: Michael Rabenstein/Uniklinikum Erlangen; zuerst erschienen in: Magazin „Gesundheit erlangen“, Sommer 2025