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Geteilte Lebenskraft

Von heute auf morgen verändert eine Diagnose das Leben einer fränkischen Familie. Mit der Entscheidung für den lebensrettenden Eingriff macht die Mutter ihrer Tochter ein unvergleichliches Geschenk.

„Die Frage stellt sich gar nicht, wenn es um das eigene Kind geht“ – in diesem kurzen Satz stecken eine dreijährige Leidenszeit und viel Mutterliebe. Katja D. hat sich entschieden, ihrer Tochter Julia eine ihrer beiden gesunden Nieren zu spenden, um der 24-Jährigen die lebenslängliche Strapaze der Blutwäsche zu ersparen. Im Frühjahr 2019 wurde bei der jungen Frau ein seltener Gendefekt festgestellt, der eine Nephronophthise auslöst. „Diese Krankheit tritt nur bei einer von 80.000 Geburten auf“, erklärt Dr. Katharina Heller, Oberärztin am Transplantationszentrum Erlangen-Nürnberg am Uni-Klinikum Erlangen. „Das defekte Nephrocystin-1-Gen bewirkt Zellveränderungen, die unter anderem einen kleinzystischen Umbau der Nieren auslösen. Dieser schränkt ihre Leistungsfähigkeit immer mehr ein und lässt das Organ schließlich vollständig vernarben und schrumpfen.“

Gendefekt ohne Symptome

Obwohl die Nierenfunktion von Julia S. im Frühjahr 2019 bereits massiv nachgelassen hatte, verspürte sie kaum Symptome. „Ich ging zum Hausarzt, weil ich ständig müde war. Wir vermuteten, dass es an der Schilddrüse liegt“, erinnert sich die junge Frau. Als die Untersuchungen ergaben, dass ein angeborener Gendefekt die Ursache für das Nierenversagen ist, wurde die Familie an die Medizinische Klinik 4 – Nephrologie und Hypertensiologie des Uni-Klinikums Erlangen überwiesen. „Sowohl Julias Vater als auch ich tragen diese seltene Genmutation, ohne dass die Krankheit bei uns ausgebrochen ist“, erklärt Katja D. Ihre Tochter hatte weniger Glück:

Bei ihr waren durch das Zusammentreffen der beiden elterlichen Genmutationen sogar beide Nieren betroffen. Deren Funktionsleistung verschlechterte sich stetig und lag nur eineinhalb Jahre nach der Diagnose bei gerade noch zehn Prozent – die Dialyse war nun unvermeidlich. Lebensnotwendige Dialyse „Wir wussten von Anfang an, dass die Nieren irgendwann komplett versagen werden und dass uns dann die Entscheidung für oder gegen eine Transplantation bevorsteht. Wir dachten, wir hätten noch fünf bis zehn Jahre Zeit. Dass ihr Zustand sich so schnell verschlechtert, hat uns beide geschockt“, berichtet die Mutter rückblickend. „Eigentlich wollte ichmeiner Tochter mit der Nierenspende die Dialyse komplett ersparen, aber dafür blieb gar keine Zeit mehr.“

Wir nutzen jede Chance, auf die Möglichkeit einer Lebendspende hinzuweisen, weil die Wartezeit bei postmortalen Organspenden viel zu lang ist.

Dr. Katharina Heller, Nephrologin

Im Juni 2021 wurde der jungen Patientin operativ ein Katheter in den Bauchraum eingesetzt, der ihr fortan eine Bauchfelldialyse (Peritonealdialyse) ermöglichte. „Dabei wird das eigene Bauchfell als Membran genutzt, um das Blut zu filtern. Über den Katheter leite ich in die Bauchhöhle alle vier Stunden einen Beutel voll spezieller Dialyseflüssigkeit, die die Abfallprodukte und das überschüssige Wasser aus dem Blut aufnimmt und dann über den Katheter wieder ausgeleitet wird.“ Dafür trägt die 24-Jährige stets den 15 Zentimeter aus dem Bauch ragenden Katheterschlauch samt Dialysebeutel unter der Kleidung.

Strikte Disziplin nötig

Das Verfahren der Peritonealdialyse ist nicht so belastend wie eine Hämodialyse und ermöglicht einen weitgehend normalen Alltag. Allerdings: „Dieses Prozedere kommt nicht für alle Betroffenen infrage“, schränkt Dr. Heller ein. „Die manuelle Blutwäsche muss regelmäßig und gleichermaßen präzise wie diszipliniert durchgeführt werden.“ Julia S. gelang diese schwierige Aufgabe vorbildlich, obwohl ihr damit weder Duschen noch Baden erlaubt waren, und ihr Hund Keno das Schlafzimmer, in dem sie die Dialyse vornahm, nicht mehr betreten durfte.

Akzeptanz als Stärke

Um ihren Beruf weiterhin ganztägig ausüben zu können, musste die Erzieherin einen Dialysevorgang am Arbeitsplatz durchführen. „Die Kinder haben die Beutel gesehen und natürlich nachgefragt. Mit Bechern, in die wir Wasser gegossen haben, habe ich ihnen erklärt, was da passiert“, lacht sie. Dieser offene Umgang mit der schweren Erkrankung, ein enger Zusammenhalt und ihre positive Akzeptanz gaben der Familie die Kraft, alle Belastungen zu überstehen. „Es ist eben, wie es ist“, meint Julias Mutter achselzuckend. „Außer viel Gottvertrauen hat sicherlich auch unser schräger Humor geholfen. Etwa, wenn meine Tochter beim Kaffeetrinken frotzelt: „Ich habe übrigens bald drei Nieren und du nur noch eine.“

Lebendspende

Gesunde Menschen können eine ihrer Nieren spenden und dennoch ohne Einschränkungen und Medikamenteneinnahme weiterleben wie vorher: Die verbleibende Niere kompensiert den Verlust zügig und effizient mit einer gesteigerten Funktionsleistung. Die Nierentransplantation von Katja D. und Julia S. war die 415. Lebendspende am Uni-Klinikum Erlangen. Alle Lebendspenderinnen und -spender werden jährlich umfassend untersucht.

Wussten Sie schon?

Bei gesunden Menschen liegt der Spiegel des Stoffwechselprodukts Creatinin zwischen 0,6 und 1,1 Milligramm pro Deziliter Serum. Steigt der Wert an, weist das auf eine verminderte Nierenfunktion hin.

Mit Mut in den OP-Saal

Humor und Durchhaltevermögen waren auch nötig: Die Transplantation Ende Januar 2022 erforderte umfangreiche Voruntersuchungen und der ursprüngliche OP-Termin im November 2021 musste coronabedingt verschoben werden. „Wir wollten es schnell machen lassen“, betont Katja D. zwei Tage vor dem entscheidenden Eingriff. „Wir glauben fest daran, dass alles glücklich verläuft und meine Niere danach gut für Julia arbeitet.“ Den größten Bammel hatte die 49-Jährige, die zuvor noch nie operiert worden war, vor der mehrstündigen Narkose. Ihre Sorge war allerdings völlig unbegründet. „Ich war froh, als ich danach wieder in unserem Zimmer war. Zwei Tage lang war mir noch übel, weil ich die Narkose nicht vertragen habe“, beschreibt sie ihren Zustand nach der mehrstündigen OP.

Erfolgreiche Operation

Auch die Transplantation verlief mehr als erfolgreich, berichtet Oberärztin Katharina Heller. „Die Empfängerin hatte drei Tage nach der Operation bereits einen Creatininspiegel von 0,96 Milligramm. Das entspricht einer Funktionsleistung von 83 Prozent und beschreibt diese wunderbar geeignete Niere der Mutter. Für die Tochter ist das ein fantastischer Start, so schnell wieder eine normale Nierenfunktion erleben zu können“, freut sich die Nephrologin. Dank der schonenden Schlüssellochtechnik, mit der die Niere entnommen wurde, konnte die Spenderin bereits am Tag nach dem Eingriff aufstehen. Sobald ihre Tochter Julia mit der richtigen Dosis an Immunsuppressiva eingestellt ist, die sie fortan ihr ganzes Leben lang einnehmen muss, damit ihr Körper das fremde Organ nicht wie der abstößt, wollen Mutter und Tochter gemeinsam in die Rehabilitation gehen. „Am meisten freue ich mich auf das erste Vollbad mit Schaum“, strahlt die Organempfängerin. „Danke, Mama!“

Text: Kerstin Bönisch/Uni-Klinikum Erlangen; Bilder: Michael Rabenstein/Uni-Klinikum Erlangen; zuerst erschienen in: Magazin „Gesundheit erlangen“, Frühling 2022

Bildergalerie: Blick in den OP