Bei chronischen Schmerzen leidet nicht nur der Körper. Soll eine Behandlung wirken, muss sie auch Psyche und Sozialleben mit einbeziehen. Dank einer multimodalen Therapie entriss Patientin Sandra Lorenz dem Schmerz das Steuer und lenkt nun wieder selbst.

Wenn Sandra Lorenz* vor einem sitzt, merkt man ihr nichts an. Die 43-Jährige ist freundlich, wirkt aufgeschlossen und entspannt. „Dir geht’s doch gut“, sagen ihre Eltern dann, wenn sie bei ihnen zu Besuch ist. Sie sehen nicht die Nervenschmerzen, die „extrem eklig“ sind, wie Sandra Lorenz sagt. Sie registrieren nicht die Muskelverspannungen, das oberflächliche Brennen auf der Haut, die Schmerzen vom linken Auge bis in die linken Zehen. Sandra Lorenz hat Multiple Sklerose (MS) – eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems. Was sie auch hat, sind Glaubenssätze: Sei stark. Sei leistungsfähig. Funktioniere.

Die Diagnose bekam Sandra Lorenz 2014. Weil ihre angegriffenen Nervenbahnen die Muskeln nicht mehr richtig ansteuerten, entwickelte sich eine Spastik in der linken Körperhälfte – die Muskeln waren permanent verkrampft und steif. Zeitweise konnte Sandra Lorenz vor Schmerzen weder sitzen noch liegen noch schlafen. Längere Flugreisen, die in ihrem Beruf als Produktmanagerin eigentlich dazugehörten, wurden unmöglich. Sie musste Kinobesuche absagen, das Fahrradfahren aufgeben, sich bei Familienfeiern ausklinken. „Es waren fünf intensive Jahre, in denen die akuten Schmerzen schleichend in chronische übergingen“, erzählt sie. „Ich hatte keine Werkzeuge, um damit umzugehen, und keinen Arzt, der mir welche gab. Keinen, der das ganzheitlich sah und mir nicht nur sagte, dass ich meine Muskeln dehnen solle.“

Sich verstanden fühlen

2020 zog Sandra Lorenz von Schwaben nach Erlangen und stieß auf das Angebot des Schmerzzentrums des hiesigen Uniklinikums. Im Vorgespräch erklärte ihr das Behandlungsteam das Konzept der multimodalen Schmerztherapie. „Das sprach mich sofort an, und ich war offen für alles“, erinnert sich Sandra Lorenz. „Ich hatte plötzlich Menschen vor mir, die sich mit Schmerzen auskannten, die mich verstanden und mir erklärten, dass ich selbst etwas tun kann. Danach habe ich im Auto erst mal geweint.“

Durch die Coronapandemie verzögert, begann im November 2021 endlich die fünfwöchige tagesklinische Schmerztherapie. Diese sah vor, dass sich eine Gruppe aus acht Patientinnen und Patienten täglich von 8.00 bis 16.30 Uhr im Schmerzzentrum des Uniklinikums Erlangen traf; die Abende und Wochenenden durften zu Hause verbracht werden. „Unser Programm richtet sich an Menschen mit chronischen Schmerzen. Viele leiden schon jahrelang“, erklärt Oberarzt Dr. Norbert Grießinger. „Bei diesen Patientinnen und Patienten gibt es in der Regel nicht die eine Ursache für die Beschwerden. Stattdessen hat sich der Schmerz verselbstständigt. Die Betroffenen befinden sich in einem Teufelskreis aus körperlichen, psychischen und sozialen Faktoren, die alle zusammen Schmerzen erzeugen und aufrechterhalten.“

Expertin für den eigenen Schmerz

Weil das chronifizierte Schmerzgeschehen multifaktoriell ist, sollte auch die Behandlung aus verschiedenen Bausteinen bestehen. Schmerzmittel allein sind nicht die Lösung. „Unser multimodales Konzept adressiert deshalb Körper, Seele und soziales Umfeld. Es soll die Lebensqualität insgesamt verbessern und die gesunden Anteile stärken. Das erreichen wir mit ärztlichen, psychologischen, bewegungs- und entspannungstherapeutischen und medikamentösen Mitteln“, zählt Norbert Grießinger auf. Seine Kollegin, Oberärztin Dr. Britta Fraunberger, ergänzt: „Für viele sind wir der letzte Rettungsanker. Wir versuchen trotzdem, mit den Patienten realistische Ziele festzulegen. Wenn jemand sagt ,Ich möchte für immer von all meinen Schmerzen befreit werden‘, wird das zwangsläufig zu Enttäuschung führen. Hilfreicher wäre: ,Ich möchte wieder öfter Dinge unternehmen, die mir Spaß machen. Ich will wieder arbeiten, in meinen Sportverein oder mit dem Hund einen Kilometer laufen.‘“ Die Teilnehmenden sollen zu Expertinnen und Experten für sich und ihren Schmerz werden und lernen, sich selbst etwas Gutes zu tun. Das habe den besten Langzeiteffekt. „Massagen oder andere passive Anwendungen gibt es deshalb bei uns nicht“, betont Dr. Fraunberger.

Neu denken, neu handeln

Stattdessen startet ein Tag im Gruppenprogramm mit medizinischer Trainingstherapie. „Manche sollen dabei vor allem Kraft und Ausdauer trainieren, bei anderen steht die Beweglichkeit im Vordergrund, oder sie üben, ihre Angst vor falschen Bewegungen abzubauen“, erklärt Britta Fraunberger. „Beim Gerätetraining oder bei der Gymnastik hatte ich keine Schmerzen“, berichtet Patientin Sandra Lorenz. Auch Nordic Walking gefiel ihr. „Viele waren vor der Therapie in einer Art Starre und kamen durch das Programm langsam da raus. Es tat gut, mit seinen Problemen nicht allein zu sein und sich auszutauschen.“ Vorher hatte sie sich meist abends fürs Fitnessstudio aufgerafft. „Nach der Arbeit war ich dafür aber eigentlich schon zu k. o. Und je kaputter ich war, desto stärker wurden die Schmerzen.“ Wie viele andere Betroffene profitierte auch Sandra Lorenz davon, ihre Gewohnheiten zu hinterfragen und neue zu entwickeln.

Jede gewonnene Erkenntnis, jede nützliche Erfahrung schrieb die Patientin auf ein kleines Merkkärtchen. So entstand mit der Zeit eine prall gefüllte Erste-Hilfe-Box, die Sandra Lorenz lange Zeit immer bei sich trug. „Gleiche jede aktivierende Tätigkeit mit einer entspannenden aus“ steht zum Beispiel auf einem Kärtchen, „Gehe weniger perfektionistisch an alle Aufgaben heran“ und „Sprich mit deinen Mitmenschen ehrlich über Schmerz und Wohlbefinden“. Sie erläutert: „Ich habe erkannt, dass es nichts bringt, wenn ich vor meinem Mann oder anderen so tue, als ob alles O. K. ist, wenn ich eigentlich Schmerzen habe. Diese Schauspielerei führt nur dazu, dass sich mir gegenüber falsche Erwartungen entwickeln.“ In Einzelgesprächen mit dem leitenden Psychologen Peter Mattenklodt deckte sie Stück für Stück negative Denkmuster auf und legte sich Alternativen zurecht, die sich besser anfühlten.

Spannungen lösen

Fühlen und spüren, den Körper wahrnehmen – darum geht es auch in den Übungsverfahren, die Fachpflegekraft Claudia Hafner anleitet. Dazu zählt die Progressive Muskelentspannung (PME). „Wenn ich mich hinlege, mich auf die einzelnen Muskeln konzentriere, sie anspanne und wieder entspanne, hilft mir das am meisten“, so Sandra Lorenz. „Dank PME habe ich das erste Mal seit Langem wieder eine Tiefenentspannung erlebt.“ Ein weiteres Verfahren ist die Eutonie. Claudia Hafner hat dafür extra eine spezielle Weiterbildung gemacht. Sie erklärt: „Eutonie soll die Spannung im Körper regulieren. Da chronische Schmerzen an sich schon zu einer Spannungserhöhung in der Muskulatur führen – der Körper versucht, sich zu schützen –, wirkt die Methode bei unseren Teilnehmerinnen und Teilnehmern vor allem entspannend. Außerdem werden die Körperwahrnehmung und die Akzeptanz eigener Grenzen geschult.“ Mit einem Bambusstab, einem mit Kastanien gefüllten Kissen oder einem weichen Ball gehen die Teilnehmenden in Kontakt mit ihrem Körper – liegen z. B. mit einer Schulter auf dem Kastanienkissen, nehmen die Druckpunkte wahr und spüren schließlich, wie der Rücken gelöst zu Boden sinkt, wenn das Kissen entfernt wird. „Schmerzpatientinnen und -patienten registrieren oft nur noch, was sich nicht gut anfühlt. Oder sie spüren sich gar nicht“, weiß Claudia Hafner. „Dank Eutonie erleben sie, dass es auch neutrale oder angenehme Empfindungen gibt.“ Menschen mit der Überzeugung „Viel hilft viel“ dürfen sich der Idee öffnen, dass auch sanfte Berührungen wirksam und wohltuend sein können und das Nervensystem harmonisieren. Claudia Hafner und Peter Mattenklodt trainieren mit ihren Patientinnen und Patienten auch die Fähigkeit, Dinge, Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen – auch Schmerzen – wahr- und anzunehmen, wie sie sind. Kein Bewerten, kein krampfhaftes Verändernwollen – der Kern von Achtsamkeit. Im Wald ertasten die Teilnehmenden Baumrinde, atmen den Duft von Harz und Kiefernnadeln, kreieren Kunstwerke aus Moos und Steinen, erleben mit allen Sinnen „und bücken sich plötzlich voller Freude nach einem Zapfen, obwohl sie vielleicht dachten, dass sie so eine Bewegung gar nicht mehr machen können“, schildert Claudia Hafner. Achtsamkeit sei theoretisch schwer zu vermitteln. Man müsse erleben, was sie mit einem macht.

Deutliche Besserung

Sandra Lorenz’ Beispiel zeigt, dass sich eine Therapie lohnt – auch nach vielen quälenden Jahren, nach Rückschlägen und selbst bei stärksten Schmerzen: Als die MS-Patientin 2020 ihren Schmerzfragebogen ausfüllte, gab sie auf einer Skala von 0 (kein Schmerz) bis 10 (schlimmster vorstellbarer Schmerz) eine Schmerzstärke von 6 bis 9 an. Zwei Jahre später, nach abgeschlossener Behandlung, stand auf derselben Skala eine 2 bis 6. Bei ihrer Arbeit und in der Freizeit fühlte sie sich 50 Prozent weniger beeinträchtigt. Kamen vorher auf eine gute, schmerzfreie Woche zwei schlechte, standen nach dem Gruppenprogramm einer schlechten Woche drei gute gegenüber.

Mittlerweile hat Sandra Lorenz den Job gewechselt und den Druck rausgenommen; sie arbeitet weiterhin in Vollzeit, aber nicht mehr als Führungskraft. Sie sorgt für ein sinnvolles Maß an Aktivität, aber auch für Pausen, macht weiter Atem- und Entspannungsübungen. Sie ist nicht mehr so streng mit sich selbst. Nach allem sagt Sandra Lorenz heute: „Ich kann selbst viel mehr tun, als ich früher dachte. Ich empfinde wieder Freude und bin auf dem Weg zu einem guten Leben.“

*Name von der Redaktion geändert

Text: Franziska Männel/Uniklinikum Erlangen; zuerst erschienen in: Magazin „Gesundheit erlangen“, Frühling 2023