Arbeit im Homeoffice, im Strandhaus, im ausgebauten Campervan – ganz frei und selbstbestimmt. Klingt toll, oder? Die sich wandelnde Arbeitswelt bringt Vorteile, aber auch Herausforderungen mit sich, wie Prof. Dr. (TR) Yesim Erim, Leiterin der Psychosomatischen und Psychotherapeutischen Abteilung des Uniklinikums Erlangen, im Interview erklärt.

Frau Prof. Erim, Arbeiten von zu Hause aus oder im Feriendomizil, sich seine Zeit frei einteilen: Das sind doch positive Entwicklungen, oder?

Fortschritt oder Problem – ich würde sagen, es ist beides. Zunächst einmal haben ja gar nicht alle die Möglichkeit, ihr Arbeitsumfeld so flexibel zu gestalten. Die Pflegekraft wird am Patientenbett gebraucht, der Produktionsarbeiter am Fließband. Die neuen Optionen stehen eher den Höherqualifizierten und Besserverdienenden zur Verfügung, den Selbstständigen und hauptsächlich denen, die Kopfarbeit verrichten.

Für die, die sie nutzen können, ist die neue Arbeitsorganisation aber ein Gewinn?

Das Arbeitspensum nimmt vor allem in komplexeren Berufen weiter zu. Dazu kommt die permanente Beschleunigung von Arbeitsprozessen. Dass Sie ein hohes Pensum erfüllen und dabei auch noch schnell sein müssen, erleben Sie ja im Homeoffice genauso.

Aber vielleicht kann ich ja abseits des Büros selbstbestimmter arbeiten?

Wenn Sie die richtigen Rahmenbedingungen und persönlichen Voraussetzungen haben, kann das funktionieren – wenn Sie im Homeoffice Ruhe finden, organisiert sind und sich nicht leicht ablenken lassen. Als Fachärztin sehe ich bei uns natürlich auch nur die Menschen, bei denen es nicht klappt und die überlastet sind. Wenn Sie zum Beispiel als Paar zu Hause arbeiten und zwei Kinder betreuen müssen, wird schnell alles zu viel. Es entsteht bei vielen der Druck, permanent erreichbar sein zu müssen, weil eben Privat- und Berufsleben nicht mehr so klar getrennt sind. Das perfektionistische Herumfeilen an etwas kann sich ausweiten, wenn jemand allein arbeitet und niemand „von der Seite“ Stopp sagt. Auch Menschen, die viel Struktur brauchen oder zu depressiven Verstimmungen neigen, profitieren nicht davon, dauerhaft ohne echten Kontakt zu Kolleginnen und Kollegen zu arbeiten.

Das ist es ja auch, was selbst Homeoffice-Fans irgendwann fehlt – das Team …

Ja, das ist enorm wichtig. Grundsätzlich können fehlende Wertschätzung oder Lob durch Vorgesetzte oder Teammitglieder zu einer Gratifikationskrise führen. Das heißt: Sie verausgaben sich, aber niemand sieht und würdigt es. Im Homeoffice bleiben Gratifikationen öfter aus: Da ist keine Kollegin, die Ihnen zulächelt und sich für die Unterlagen bedankt, niemand, dem das neue Outfit auffällt oder der Sie mal bestärkt.

Also sollte ich auch meine Offline-Kontakte pflegen?

Ich plädiere dafür. Zumindest ein Wechsel zwischen „echtem“ Büro und Homeoffice ist vorteilhaft. Die Arbeit in Gruppen wirkt generell schützend auf unsere psychische Gesundheit. Wir brauchen den Austausch, Anerkennung, Inspiration und Zuspruch durch andere. Außerdem lernen wir durch sie soziale Rollen und Regeln. In der Pandemie hat sich zum Beispiel der Kleidungsstil verändert. Es gab ja lange Zeit kein Gegenüber, an dem ich ablesen konnte, was eine angemessene Arbeitskleidung ist. Viele sagen, dass sie durch mobiles Arbeiten mehr Zeit haben, weil zum Beispiel Arbeitswege wegfallen. Das mag teilweise stimmen, aber die gewonnene Zeit, die uns die Digitalisierung verspricht, steht uns oft gar nicht zur Verfügung. Denn die neuen Technologien führen zu einer starken Arbeitsverdichtung: Jede entstandene Lücke wird mit einem neuen To-do gefüllt. Das ist umso ausgeprägter, je anspruchsvoller bzw. besser bezahlt der Beruf ist.

Die Ansprüche und Wünsche Berufstätiger bezüglich ihrer Arbeit sind jedenfalls gestiegen, oder?

Definitiv. Gerade die Pandemie hat den Menschen die Überzeugung gegeben, dass sie Lebensziele nicht zu lange aufschieben dürfen, weil sie nie wissen können, ob die Zukunft Lebensbedingungen bringt, die mehr Selbstverwirklichung ermöglichen. Deshalb gab es zuletzt auch so viele Kündigungen. Mitarbeitende wollen eindeutig zufrieden mit ihrem Arbeitsplatz sein. Die Tätigkeit soll mit dem Familienleben vereinbar sein und dem Leben einen Sinn verleihen.

„Menschen wollen heute eindeutig zufrieden mit ihrem Arbeitsplatz sein.“

Prof. Dr. (TR) Yesim Erim

Was wird heute von Führungskräften verlangt?

Es wird erwartet, dass Arbeitsstrukturen transparent sind, dass die Kommunikation offen und auf Augenhöhe stattfindet. Führungskräfte müssen dafür sorgen, dass Mitarbeitende neben den Zielen der Institution auch eigene Ziele gut erreichen können. Von Führungskräften anerkannt zu werden, ist ein Schutzfaktor für die psychische Gesundheit.

Empfinden Beschäftigte weniger Druck, wenn sie ihre Arbeit selbstbestimmter organisieren dürfen?

Die hohen Leistungsanforderungen vieler Unternehmen bleiben auch im mobilen Büro bestehen – genau wie die Mechanismen, mit denen sie die Zielerreichung überwachen. Je größer meine beruflichen Anforderungen sind und je niedriger gleichzeitig die Kontrolle über die Arbeitsaufgaben und -abläufe ist, desto stärker fühle ich mich psychisch belastet – auch im Homeoffice.

Aber mit den neuen Arbeitsmodellen kann ich doch Kontrolle zurückerlangen?

Wenn Sie sich selbst motivieren, strukturieren und Grenzen setzen können, wenig Anerkennung von außen brauchen, die richtigen Rahmenbedingungen haben …

Einer Ihrer Schwerpunkte sind arbeitsplatzbezogene Störungen. Die reichen von Burn-out über Schlafstörungen und Magenschmerzen bis hin zu Angststörungen. Wie helfen Sie Betroffenen?

Die Zahl der Erkrankten wächst. Wir unterstützen sie dabei, ihre Lebensqualität zu verbessern und wieder arbeitsfähig zu werden. In unserer ambulanten Gruppentherapie vermitteln wir Bewältigungsstrategien, etwa im Umgang mit Stress. Auch eine tagesklinische oder stationäre Behandlung ist möglich. Wir achten heute viel stärker auf die Bedingungen am Arbeitsplatz, die zur Entstehung und zum Fortbestehen psychischer Beschwerden beitragen. Im Projekt „Frühe Intervention am Arbeitsplatz“, kurz FRIAA, haben wir in den vergangenen Monaten über 100 Beschäftigte aus großen Unternehmen in der Region behandelt. Sie alle hatten psychosomatische Beschwerden, die sich am Arbeitsplatz zeigten. Es ist wichtig, früh über solche Belastungen zu sprechen, damit die Beschwerden nicht chronisch werden. Wir setzen uns für die Entdiskriminierung der Betroffenen ein.

Interview: Franziska Männel/Uniklinikum Erlangen, Foto: Michael Rabenstein/UK Erlangen; zuerst erschienen in: Magazin „Gesundheit erlangen“ Winter 2022/23