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Störung ist Standard

Aufploppende E-Mails, blinkende WhatsApp-Nachrichten, Anrufe – ständige Störungen verhindern häufig ein effektives Arbeiten. Lässt sich das verhindern, und, wenn ja, wie? Ein Interview mit Prof. Dr. Johannes Kornhuber.

„Der Tag ist schon fast rum, und ich habe mit der Planung für das wichtige Projekt noch nicht mal angefangen…“ Viele Menschen arbeiten, ohne voranzukommen, weil ständig irgendetwas dazwischenkommt. Inzwischen beziffern zahlreiche Studien sogar die Höhe des wirtschaftlichen Schadens, der nur dadurch entsteht, dass Beschäftigte durch Unterbrechungen aus ihren eigentlichen Aufgaben herausgerissen werden. Hinzu kommt die persönliche Unzufriedenheit, die gesteckten Ziele nicht erreichen und die vorgenommenen Arbeitsabläufe nicht umsetzen zu können. Prof. Dr. Johannes Kornhuber, Direktor der Psychiatrischen und Psychotherapeutischen Klinik des Uniklinikums Erlangen, schützt deshalb aktiv seine Ruhe beim Arbeiten – und ermöglicht auch seinen Mitarbeitenden Phasen ungestörter Konzentration.

Herr Prof. Kornhuber, was macht ungestörtes Arbeiten heutzutage so schwierig?

Wir sind heute dank modernster IT-Technologien immer und überall erreichbar und öffnen damit allen Störungen unserer Produktivität die Türen. Nehmen wir eingehende E-Mails als Bespiel: Die meisten Menschen halten ihren Posteingang offen und werden so optisch und oft auch akustisch über neue Mails informiert. Studien belegen, dass 70 Prozent aller E-Mails innerhalb von sechs Sekunden nach ihrem Eingang geöffnet werden. Unterbrechungen während eines Arbeitsvorgangs, der volle Konzentration benötigt, führen zu einem Produktivitätsverlust. Untersuchungen zeigen, dass es pro Unterbrechung bis zu 23 Minuten dauern kann, bis die ursprüngliche Arbeit wieder aufgenommen wird.

Dabei beschleunigen E-Mails die Kommunikation ja eigentlich?

So ist es. Deshalb wird der Störungseffekt in Studien auch als sogenanntes E-Mail-Productivity-Paradox bezeichnet. Wir glauben, wir sind schneller, werden aber eigentlich ausgebremst. Dennoch darf nicht vergessen werden, dass der signifikante Unterbrechungseffekt von E-Mails deutlich geringer ist als zum Beispiel der von Telefonanrufen.

Ist es überhaupt möglich, sich die eigene Arbeit störungsfrei zu organisieren?

Wer für seine Tätigkeiten eine unterbrechungsfreie Zeit von 45 oder 60 Minuten benötigt, kann für diesen Zeitraum das E-Mail-Programm schließen und sich feste Zeitfenster für das Abrufen und Bearbeiten von Nachrichten einplanen. Auch Betriebe und Institutionen sollten hier für ihre Mitarbeitenden günstige Bedingungen schaffen. Wir haben zum Beispiel auf unseren Stationen PC-Arbeitsplätze für ungestörtes Arbeiten eingerichtet. Dazu muss im Team lediglich abgestimmt werden, wer in welchem Zeitraum telefonisch nicht erreichbar sein muss. Ich persönlich empfinde es als Privileg, kein mobiles Diensttelefon zu besitzen und bin auf meinem privaten Smartphone während der Arbeitszeit nur für meine engsten Familienmitglieder erreichbar.

Derart ruhiges Arbeiten lässt sich allerdings nicht überall realisieren …

Aber wir alle haben die Möglichkeit, unsere Umgebung so einzurichten, dass es für unsere Arbeitsbedürfnisse günstig ist. Das ist auch viel zielführender, als sich allein auf die eigene Willenskraft zu verlassen – die ist nämlich irgendwann aufgebraucht. Ich nutze zum Beispiel als Hilfsmittel Kopfhörer, die Hintergrundgeräusche unterdrücken. Obwohl ich ein sehr ruhiges Arbeitszimmer habe, stören mich manchmal sogar die üblichen leisen Alltagsgeräusche bei der Konzentration. Das kann ich mir nicht abtrainieren, aber ich kann beeinflussen, welche Geräusche ich zu meinem Bewusstsein durchdringen lasse.

Lässt es sich denn gar nicht trainieren, den Fokus auf das Wesentliche zu setzen?

Wer das Problem der Ablenkung für sich wahrnimmt, hat schon einen entscheidenden Schritt geschafft, um hier gegenzusteuern. Wichtig ist die eigene Achtsamkeit beim Arbeiten. Hilfreiche Fragen sind: „Wann ist meine persönliche Leistungsfähigkeit am höchsten?“ oder „Wie wichtig ist mir die aktuelle Aufgabe eigentlich?“ Wer nach einzelnen Arbeitsschritten Pausen einplant, stärkt zusätzlich die eigene Aufmerksamkeit: Niemand kann stundenlang konzentriert durcharbeiten. Als sehr nützlichen Ansatz für effektive Tagesstrukturen empfehle ich die Ivy-Lee-Methode.

„Manchmal stören mich sogar leise Alltagsgeräusche bei der Konzentration.“

Prof. Dr. Johannes Kornhuber

Gibt es weitere Strategien gegen äußere Ablenkungen?

Die beste Strategie ist wohl, dass das Handy gar nicht mit mir in einem Raum ist. Besonders wirkungsvoll ist es, neue gute Gewohnheiten zu entwickeln. Dies lässt keinen Platz mehr für die alten schlechten Gewohnheiten. Ein gutes morgendliches Ritual könnte beispielsweise sein, am offenen Fenster drei tiefe Atemzüge zu nehmen, um sich dann mit einer Tasse Kaffee für 45 Minuten intensiv der Aufgabe zu widmen, die ich als wichtigste für diesen Tag definiert habe. Wer stattdessen als Erstes seine E-Mails bearbeitet, läuft Gefahr, sich dabei zu verzetteln. Mir selbst habe ich abends eine bildschirmfreie Phase verordnet, an die mich ein kleiner Wecker immer um 21.00 Uhr erinnert. Sobald der Ton erklingt, beginnt für mich die Zeit, in der ich meinen Tag ruhig ausklingen lasse.

Text: Kerstin Bönisch/Uniklinikum Erlangen; Fotos: Simone Kessler/Uniklinikum Erlangen, Aliaksandr Marko/stock.adobe.com, dihard/stock.adobe.com; zuerst erschienen in: Magazin „Gesundheit erlangen“, Herbst 2022

Die Ivy-Lee-Methode für effektives Arbeiten

Die bereits 1918 entwickelte Methode besticht durch ein einfaches Prinzip: Abends werden die sechs wichtigsten To-dos für den nächsten Tag notiert und nach Priorität geordnet. Der Tag beginnt dann mit der konzentrierten Erledigung der wichtigsten Aufgabe. Nach deren Abschluss werden die gesetzten Prioritäten der Liste erneut überprüft, dann wird Punkt 2 erledigt. Zum Ende der Arbeitszeit beginnt die gleiche To-do-Planung für den Folgetag: Dabei landen auch jene Punkte auf der neuen Liste, die nicht erledigt werden konnten, aber noch relevant sind.

Zersägte Konzentration

Wer bei einer konzentrierten Tätigkeit unterbrochen wird, erlebt den „Sägeblatt-Effekt“: Jede Störung – und sei sie noch so kurz – beansprucht nicht nur die Zeit der Unterbrechung an sich, sondern zusätzlich auch eine Wiederanlaufzeit, die sich mit jeder weiteren Ablenkung verlängert.