Mithilfe von virtueller Realität wollen HNO-Ärztinnen und -Ärzte im Rahmen einer Studie Angstzustände vor und Schmerzen nach einer Operation verringern.

Matthias N. wurde noch nie operiert. Doch morgen werden dem 46-Jährigen seine Mandeln entfernt. „Sie bereiten mir schon seit meiner Kindheit immer wieder Probleme und sind mehrmals pro Jahr entzündet. Deswegen musste ich auch häufig Antibiotika nehmen, allerdings verträgt sie mein Körper nicht gut“, berichtet der Patient. „Mein Arzt war daher der Meinung: Die müssen raus.“ Der gebürtige Erlanger ist sichtbar nervös: „Mir ist schon mulmig, wenn ich an die OP denke und an die Schmerzen danach.“ Um bei Patienten wie Matthias N. die Angst vor dem Eingriff – im Fachjargon als Tonsillektomie bezeichnet – und die Schmerzen im Anschluss abzumildern, setzen die Ärztinnen und Ärzte der Hals-Nasen-Ohren-Klinik – Kopf- und Halschirurgie des Uni-Klinikums Erlangen seit Herbst 2021 im Rahmen einer Studie virtuelle Realität (VR) ein. VR ist eine Computertechnologie, die Nutzerinnen und Nutzer in eine künstliche, dreidimensionale Welt entführt. „Dazu setzen die Patientinnen und Patienten am Tag vor und an den Tagen eins und zwei nach der OP eine VR-Brille und einen Kopfhörer auf. Damit begeben sie sich auf eine 10- bis 20-minütige Traumreise“, erläutert Assistenzärztin Dr. Malin Miksch. „Sie fokussieren sich auf die virtuelle Umgebung, sodass weniger Aufmerksamkeit auf der Behandlung und möglichen Schmerzen liegt.“

Heute war ich im Weltall. Es war einfach cool.

Matthias N.

Schnee oder Sand?

Weltall, Unterwasserwelt, Wald, Winterlandschaft oder Meer – wohin soll die Reise gehen? Mithilfe einer Fernbedienung wählt Matthias N. sein Ziel aus: Traumstrand. Auch die Hintergrundmusik und ob die anleitende Stimme weiblich oder männlich sein soll, sucht er selbst aus.  „Auf dem Tablet sehen wir, was unser Proband sieht, und führen ihn durchs Menü“, sagt Assistenzarzt Peter Buchta. Bei der VR-Reise kann der Patient auch den Kopf drehen, nach oben oder unten schauen. „Die Reise ist in 3-D und deckt 360 Grad ab – für ein wirklich immersives Erlebnis“, so der Studienarzt. „Machen Sie es sich bequem“, ermuntert die Stimme aus dem Kopfhörer Matthias N. Vor ihm erscheint eine Tür. Als sie sich öffnet, findet er sich an einem Strand mit Palmen wieder. Die Wellen bewegen sich langsam ans Ufer. „Spüren Sie die unterschiedlichen Temperaturen im Sand und im Wasser?“ Nach zehn Minuten streckt sich der Patient und nimmt die Brille ab. Er fühle sich deutlich erholt nach seinem virtuellen Ausflug:  „Das hat mich echt beruhigt“, sagt er, und sein Gesichtsausdruck ist schon viel fröhlicher als vor der Gedankenreise. „Das wäre auch mal was für zwischendurch in der Arbeit“, schmunzelt Matthias N.

Vielversprechende Methode

„Erste Untersuchungen konnten zeigen, dass beispielsweise gynäkologische Patientinnen postoperativ weniger Schmerzmittel benötigten, wenn sie nach dem Eingriff mit einer VR-Brille in eine andere Welt eintauchten“, erläutert der Studienleiter und geschäftsführende Oberarzt der HNO-Klinik PD Dr. Antoniu- Oreste Gostian. „In den Niederlanden wurde die VR-Technologie im Rahmen von Studien bereits bei einer Reihe von ambulanten operativen Eingriffen angewendet. Die Ergebnisse belegen eine deutliche Reduzierung von Angst- und Schmerzzuständen bei den Probandinnen und Probanden. VR könnte also eine vielversprechende Ergänzung in der akuten Schmerztherapie sein.“ Um die Methode nun auch bei stationären HNO-Patientinnen und -Patienten zu testen, wollen Dr. Gostian und sein Studienteam 30 Personen jeweils am Tag vor der Mandelentfer- Einmal Traumstrand, bitte! Im Menü wählen die Studienteilnehmenden einen von fünf Sehnsuchtsorten aus.  nung einen Fragebogen zu ihren Ängsten ausfüllen lassen und sie anschließend auf eine Entspannungsreise schicken. An den Tagen eins und zwei nach dem Eingriff sollen die Patientinnen und Patienten erneut die VR-Brille aufsetzen und u. a. ihre Schmerzen auf einer Skala von null bis zehn einordnen. Die Ergebnisse werden mit denen einer Kontrollgruppe verglichen. Voraussichtlich 2022 soll die Auswertung vorliegen.

Matthias N. ist einer der ersten Probanden und kann nur Gutes von seiner VR-Erfahrung berichten: „Heute war ich im Weltall. Es war einfach cool, ich habe alles um mich herum vergessen. Ich freue mich schon auf meine nächste Reise morgen.“

Weitere Informationen

Hals-Nasen-Ohren-Klinik – Kopf- und Halschirurgie

09131 85-36882

hno(at)uk-erlangen.de

www.hno-klinik.uk-erlangen.de

Text und Bilder: Alessa Sailer. Zuerst erschienen in: Magazin „Gesundheit erlangen“, Winter 2021/22