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Wenn Essen zum Problem wird

Nicht nur das Coronavirus kann uns in der Pandemie krank machen. In Zeiten von Kontaktbeschränkungen und Ausgangsverboten nehmen psychische Erkrankungen wie Essstörungen erheblich zu. Was Betroffene und Außenstehende dagegen tun können.

Nach wie vor nimmt die Coronapandemie Einfluss auf unser Leben. Dass sich unser Alltag in vielerlei Hinsicht verändert hat, kann auch die psychische Gesundheit beeinträchtigen. So lässt sich in Untersuchungen des Jahres 2020 im Vergleich zu den Vorjahren ein deutlicher Anstieg an Ängsten, Depressionen und – damit oftmals einhergehend – Essstörungen erkennen. Denn gerade durch vermehrte oder verminderte Nahrungsaufnahme versuchen viele, ihre negativen Emotionen zu bewältigen. Auch die Rückfallquote ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. „Einige unserer Patientinnen und Patienten, die schon einmal vor längerer Zeit aufgrund von Magersucht oder Bulimie in Behandlung waren, kommen nun während der Pandemie wieder, weil sie in alte Verhaltensmuster zurückfallen. Für 40 bis 50 Prozent der von einer Essstörung betroffenen Personen spielen die pandemiebedingten Einschränkungen eine entscheidende Rolle im Krankheitsverlauf“, erklärt Dr. Holmer Graap, leitender Psychologe in der Psychosomatischen und Psychotherapeutischen Abteilung des Uni-Klinikums Erlangen.

Essen als Lebenssinn

So erlebt es auch Jana F. (Name von der Redaktion geändert), die zum wiederholten Mal an Bulimie erkrankt ist und seit einigen Wochen am Uni-Klinikum Erlangen stationär behandelt wird: „Ich hatte gerade erst wieder angefangen, richtig zu leben. Tanzen gehen, Reisen und Spieleabende mit Freunden haben mir Kraft gegeben. Wegen der Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen ist das alles weggebrochen. Da ich allein lebe und nun einfach keinen Sinn mehr in meinem Alltag sehe, ist Essen für mich der einzige Grund, morgens überhaupt aufzustehen“, berichtet die 36-Jährige.

Verborgene Symptome

Das Hauptproblem der pandemiebedingten Essstörungen sieht Holmer Graap darin, dass wegfallende Strukturen und Sozialkontakte häufig zu einem Rückzugsverhalten führen. „Die Beschränkungen haben zur Folge, dass Anorexiepatientinnen und -patienten hin und wieder eine Mahlzeit ausfallen lassen – und es niemand bemerkt“, erläutert der Experte. „Wir sehen aber auch, dass manche von denjenigen, die eher zu viel essen, durch erhöhte Vorratshaltung und Hamsterkäufe große Mengen an Nahrungsmitteln zu Hause haben und dadurch leichter in Versuchung kommen, zuzugreifen.“

Auch die Tatsache, dass sich neue Regelungen in Pandemiezeiten nicht vorhersehen lassen, verstärkt gerade bei Patientinnen und Patienten mit Magersucht oder Bulimie ungesunde Gedanken und Verhaltensweisen. Denn nimmt das Bedürfnis nach Kontrolle und Vorhersehbarkeit zu, wird dies oftmals mit einer Essstörung kompensiert. Das Tückische an einer solchen Erkrankung: Sie gibt den Betroffenen ein subjektives Gefühl von Sicherheit.

Bis der Leidensdruck sehr groß wird oder Angehörige einer erkrankten Person sagen, dass sie sich in Behandlung begeben muss, kann es eine Weile dauern. „Bulimie und Magersucht sind schambehaftet und bleiben oft lange Zeit verborgen. Besonders bei Männern vermuten wir eine hohe Dunkelziffer. Betroffene neigen häufig dazu, das Problem mit sich selbst auszumachen. Manche leiden jahrelang und suchen erst dann Hilfe, wenn sie an ihre Grenzen stoßen und keine Kraft mehr haben, das eigene Leben zu bewältigen. Meist ist das ungesunde Verhältnis zum Essen dann schon zum Verhaltensmuster geworden“, erläutert Dr. Graap.

Achtsam sein!

„Mein Appell an alle, deren Gedanken und Verhaltensweisen sich in eine ungesunde Richtung bewegen: Achten Sie darauf, wie es Ihrer Psyche und Ihrem Körper geht, und suchen Sie sich Hilfe, bevor Sie in die Essstörung (zurück)fallen – begeben Sie sich also möglichst zeitnah in Behandlung. Dieser Rat lässt sich natürlich auf alle anderen psychischen Krankheiten erweitern“, betont Prof. Dr. (TR) Yesim Erim, Leiterin der Psychosomatik des Uni-Klinikums Erlangen. Doch was kann ich als außenstehende Person tun, wenn ich bemerke, dass eine Kollegin, ein Freund oder ein Familienmitglied sehr wenig isst, sich regelmäßig erbricht und/oder immer dünner wird? „Ich empfehle, eine solche Beobachtung in jedem Fall zu thematisieren – natürlich in einem geschützten Rahmen. Viele haben die Sorge, Betroffenen zu nahe zu treten, wenn sie die vermutete Essstörung ansprechen. Durch diese Zurückhaltung und die eingeschränkten Kontakte während der Pandemie wird jedoch so manche schwere Erkrankung übersehen“, warnt die Expertin.

Text: Marie Graber/Uni-Klinikum Erlangen; zuerst erschienen in: Magazin „Gesundheit erlangen“, Frühling 2022

Bulimie

Eine Bulimie bzw. Bulimia nervosa (auch Ess-Brech-Sucht genannt) kennzeichnet sich durch den Wechsel von Essanfällen und Versuchen der Gewichtsreduktion. Charakteristisch ist der Kontrollverlust während der Essanfälle, bei denen Betroffene große Mengen Lebensmittel zu sich nehmen. Aus Angst vor einer Gewichtszunahme folgen anschließend z. B. selbstinduziertes Erbrechen, die Einnahme von Abführmitteln oder exzessiver Sport.

Magersucht

Kennzeichnend für eine Magersucht bzw. Anorexia nervosa ist ein starker Gewichtsverlust oder anhaltendes Untergewicht. Betroffene haben Angst davor, zu dick zu sein, und schränken die Nahrungsaufnahme stark ein.

Beratungsstelle Erlangen

Hilfe finden Betroffene und ihre Angehörigen nicht nur bei Therapeutinnen und Therapeuten, sondern auch bei Beratungsstellen, die ggf. den Kontakt zu Selbsthilfegruppen herstellen. Integrierte Beratungsstelle der Stadt Erlangen: www.bit.ly/3B0KpHH