Ob Menschen schwere Unfälle überleben oder nicht, entscheidet das Schicksal – und das überlegte Vorgehen von Unfallchirurginnen und -chirurgen im OP-Saal. Denn nicht jede Fraktur sollte sofort gerichtet werden.

„Warum fährt der so eine komische Linie?“, dachte Michael Hallers* Freund, als er ihm Mitte April 2022 mit dem Motorrad folgte. „Warum lenkt er jetzt nicht ein?!“ Da zog es Michael Hallers Maschine schon auf die Gegenfahrbahn. Mit hoher Geschwindigkeit streifte er ein Auto, wurde über die Straße ins Gebüsch geschleudert. „Ich weiß noch, dass mein Freund zu mir kam, und dass ein Ehepaar anhielt – sie war Krankenschwester“, berichtet der 73-jährige Verunglückte. „Sie haben versucht, meine Lederkombi aufzuschneiden, um mir einen Zugang zu legen. Ich hatte einen dumpfen Druck auf der Brust, und ich wusste: Mein Oberschenkel ist nicht mehr heil.“ Dass es viel mehr war als nur der Oberschenkel, sollten später der Notarzt und die Unfallchirurginnen und -chirurgen am Uniklinikum Erlangen erkennen.

What kills first

Der Rettungshubschrauber brachte Michael Haller nach Erlangen. Im Schockraum wurde er ins Spiral-CT geschoben, das ihn von Kopf bis Fuß auf Verletzungen scannte. Die FAST-Sonografie durchsuchte Bauch, Flanken und

Becken nach Blutungen. Jeder Notfall erhält einen Score, der die Schwere des Traumas angibt. Ein Polytrauma umfasst mehrere Verletzungen, von denen mindestens eine lebensbedrohlich ist. „Von Polytrauma sprechen wir ab einem Wert von 16. Michael Haller lag bei 33“, erklärt Oberarzt Dr. Johannes Krause von der Unfallchirurgischen und Orthopädischen Klinik des Uniklinikums Erlangen. Er operierte den Motorradfahrer sofort nach seiner Einlieferung. Das Ausmaß: Oberschenkelfraktur und Sprunggelenksbruch rechts, aufgerissener Unterschenkel und zertrümmerter Mittelfuß links, drei gebrochene Rippen, gebrochener fünfter Brustwirbel.

Unfallchirurgische Teams gehen nach dem Damage-Control-Prinzip vor und priorisieren das Dringendste. Treat first what kills first – Behandle zuerst das, was als Erstes lebensbedrohlich wird. „Der Bruch im Rücken war zwar instabil, aber der Spinalkanal war nicht verengt und es drohte keine Querschnittslähmung“, erklärt Dr. Krause. „Deshalb konnten wir mit der Wirbelsäule warten und haben in der ersten OP nur die Beine versorgt. Der Oberschenkel war stark verschoben, die Knochenenden ragten in die Weichteile und es entstand ein erheblicher Blutverlust. Auch der Fuß war hochgradig geöffnet.“

Alles auf eine Karte

Früher haben Ärztinnen und Ärzte Verletzten viel mehr zugemutet, sie unmittelbar nach einem Unfall in acht- oder zehnstündigen Not-OPs großen Belastungen ausgesetzt. „Heute wissen wir, dass es für die Patientinnen und Patienten besser ist, erst mal nur das zu operieren, was unbedingt sein muss“, sagt Prof. Dr. Miriam Kalbitz, seit 2020 Inhaberin der neuen Professur für Traumaimmunologie an der FAU Erlangen Nürnberg und Oberärztin der Unfallchirurgie des Uniklinikums Erlangen. „Mehrfachverletzungen bringen den gesamten Organismus in Alarmbereitschaft. Das Immunsystem setzt alles auf eine Karte, um das Überleben zu sichern, und es entsteht eine Ganzkörperentzündung“, erklärt Miriam Kalbitz. „Diese Entzündung verstärken wir durch chirurgische Eingriffe möglicherweise noch. Deshalb müssen wir schonend vorgehen und alle OPs so planen, dass sie für den Patienten das beste Ergebnis bringen.“ Denn die Folgen von zu viel „Alarm“ können schwerwiegend sein: Blutvergiftung, Wundinfektion, Organversagen, Tod.

Bei einem Polytrauma setzt das Immunsystem alles auf eine Karte.

(Prof. Dr. Miriam Kalbitz)

„Unfälle sind schicksalhaft, und bei schweren Schädel-Hirn-Traumata oder starkem Blutverlust kommt manchmal schon an der Unfallstelle jede Hilfe zu spät“, sagt Prof. Kalbitz. „Aber wenn jemand die ersten Stunden übersteht, ist es unser Anliegen, das Entzündungsgeschehen – die Inflammation – optimal zu steuern.“

Die Entzündung eindämmen

Miriam Kalbitz möchte besser verstehen, wie die Entzündung bei einem Polytrauma abläuft, warum das Immunsystem dabei oft übers Ziel hinausschießt und wie sich Unfallopfer besser erholen. „Wir wissen, dass die entzündlichen Prozesse bei Mehrfachverletzten Herz, Lunge und Nieren angreifen. Je invasiver wir operieren, desto größer der Schaden für die Organe. Sogar eine Bluttransfusion setzt einen inflammatorischen Reiz.“

Aber warum erholt sich der eine von einer systemischen Entzündung und die andere entwickelt einen Infekt und stirbt? Das zu verstehen, ist Aufgabe der Traumaimmunologie. Ihre Forschung dazu möchte Miriam Kalbitz an den OP-Tisch bringen, wo sie auch selbst um das Leben von Schwerverletzten kämpft. „Es ist ein Spagat, einerseits die überschießende Entzündung zu unterdrücken, andererseits aber den Teil des Immunsystems zu erhalten, der beispielsweise vor einer Wundinfektion schützt“, erklärt die Oberärztin. Aktuell untersucht sie u. a. in einem Verbundprojekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft, inwiefern Entzündungsmarker im Blut schon früh voraussagen, wie gut jemand ein Trauma überstehen wird. „Ziel soll es sein, OP-Zeitpunkte bestmöglich zu koordinieren. Heruntergebrochen heißt das: Wir forschen, damit Sie nicht an Ihren schweren Verletzungen sterben.“

Eins nach dem anderen

Michael Haller war bis zu seinem Unfall noch nie ernsthaft krank oder verletzt, das seien alles nur „Micky-Maus-Sachen“ gewesen. Seine Beinoperationen hat er gut weggesteckt. „Da wurde hervorragende chirurgische Arbeit geleistet“, sagt der Patient, der als Selbstständiger im Bereich Medizintechnik arbeitet. „Nach der guten Erfahrung mit den Beinen war ich regelrecht überrascht, dass ich nach der Rücken-OP überhaupt Schmerzen bekam“, berichtet er. „Aber mit einer angepassten Medikation haben wir das in den Griff bekommen.“ Der gebrochene Wirbel wurde mit Unterstützung eines modernen OP-Navigationssystems unter 3-D-Bildgebung versteift. „Das hat uns das Einbringen der Schrauben in diesem schwer einsehbaren Bereich der Wirbelsäule extrem erleichtert“, erklärt Operateur Dr. Krause. „Fünf Tage nach der ersten notfallmäßigen OP konnten wir für den Rücken in Ruhe das ideale Setting schaffen.“

Zehn Tage nach seiner Einlieferung per Helikopter steht Michael Haller auf der unfallchirurgischen Station B1-1 das erste Mal aus seinem Bett auf – mit einer großen Orthese am rechten Bein und mit hohem Gehwagen. „Es ist alles gut gelaufen“, sagt Johannes Krause, „und seine Prognose ist gut. Oberschenkel und Rücken werden höchstwahrscheinlich folgenarm abheilen. Dazu kommt, dass er für sein Alter sehr fit ist und sich schneller erholen wird als andere.“ Vielleicht bekommt Michael Haller in den nächsten Tagen noch ein Hauttransplantat für seinen Fuß – je nachdem, wie die Heilung voranschreitet. Jedenfalls möchte er unbedingt wieder aufs Motorrad. „Meins hat einen Totalschaden, die Saison ist gelaufen – das ist mir klar“, gibt er zu. „Aber ich möchte schnellstmöglich wieder zu dem Zustand vor dem Unfalltag zurück, zur vollen Funktionsfähigkeit.“ Michael Hallers Frau wird keine Freudensprünge machen, wenn er sich eine neue Maschine kauft. Im August 2022 sind die beiden 50 Jahre verheiratet. „Motorrad fahre ich seit 56 Jahren. Und ich möchte das noch so lange wie möglich tun“, sagt er.

*Name von der Redaktion geändert

Text und Fotos: Franziska Männel/Uniklinikum Erlangen; zuerst erschienen in: Magazin „Gesundheit erlangen“, Sommer 2022